Nepal_Kargl_47_2020_CMS.jpg August Kargl

Panorama von Pokhara. Die Annapurnas und der Machapucharé, das Matterhorn Nepals, spiegeln sich im Phewa Lake. 

© August Kargl

Panorama von Pokhara. Die Annapurnas und der Machapucharé, das Matterhorn Nepals, spiegeln sich im Phewa Lake. 

© August Kargl
Oktober 2020

Mein Nepal

Skurril, steil und saugeil. Das ist Nepal, das exotische Kleinod im Schatten der Himalaja-Riesen. Ein Land, das Reisende auf vielfältige Weise fordert und manche, wie den Schreiber dieser Zeilen, nie mehr losgelassen hat.

Ich erinnere mich gut. An diesen vorwurfsvollen Blick. Als ich vor 39 Jahren beschloss, allein nach Nepal aufzubrechen, war mein Vater fassungslos. Er, der in jungen Jahren so viele heimische Berge im Alleingang bestiegen hat, wollte oder konnte nicht verstehen, dass ich, nunmehr verheiratet und Vater einer Tochter, meine Familie daheim zurückließ. Einfach nur um für ein paar Wochen irgendwo in Asien abzuhängen.

Aber ich blieb stur. Mit meiner kleinen Familie war ich im Reinen. Und Nepal war für mich weit mehr als nur ein Egotrip. Es sollte die Erfüllung meines lang gehegten Bubentraums werden: Einmal in den Himalaja reisen, den Kopf in den Nacken legen und aufschauen zu den höchsten Gipfeln der Welt.

Aber der Bubentraum begann holprig. Nervenaufreibende Diskussionen beim Umsteigen in Delhi. Trotz bestätigten Flugtickets ließ man mich erst im allerletzten Moment in die Morgen-Maschine der Royal Nepal Airlines nach Kathmandu einsteigen. Im Landeanflug hoffte ich einen Blick auf die Himalaja-Kette zu erhaschen, aber alles, was ich am Horizont sah, waren Wolken.

Dank indischem Abfertigungs-Chaos hatten wir heftige Verspätung. Es war auch schon fast Mittag. Und um diese Tageszeit sind selbst die höchsten Berge der Welt nur selten zu sehen.

Was ich aber sah, waren mächtige Auffaltungen, üppig-grüne Vegetation, steile Reis-Terrassen und irden-rot getünchte strohgedeckte Lehmhütten. Ich sah zum ersten Mal das ländliche, das wahre Nepal.

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Nepal_Kargl_30_2020_CMS.jpg August Kargl © August Kargl
Das ländliche Nepal. Strohgedeckte Lehmhütten und schwer arbeitende Menschen, die schwerste Lasten per Stirnriemen tragen. 

Hysterisches Geschrei gleich nach der Landung. Eine ältere US-Lady im Safari-Hosenanzug mit violetten Strähnen im schlohweißen Haar läuft wie verrückt übers Flugfeld. "I can't see Everest!", brüllt sie immerzu. Zwei Flughafen-Mitarbeitern mit bunten Topis – den typisch-nepalesischen Männer-Kapperln – gelingt es, die Dame einzufangen, sie irgendwie zu beruhigen. Schlussendlich dürfte sie verstanden haben, dass der höchste Berg der Welt, der Mount Everest, nicht gleich neben der Flugpiste in Kathmandu steht.

Und noch etwas verwundert mich: Die Zollbeamten tragen Grashalme hinter den Ohren und gatschig-rote Paste auf der Stirn. "It's Dashain, Festival Time, you are very lucky!", klärt man mich auf.

Von wegen lucky. Kein Taxifahrer will mich mitnehmen. Angeblich, weil die Billighotels in Kathmandus Altstadt kein Bakschisch für heran gekarrte Sahibs bezahlen. Und so bleibt mir nur der stickige, hoffnungslos überfüllte Airline-Bus zur New Road.

Mit meinem prall gepackten alten Leinenrucksack am Buckel schlendere ich die Straße runter zum Basantapur-Platz. Eine mit Lehmziegeln gepflasterte Freifläche. Meeting Point und das alte Herz von Kathmandu. Und damals, vor 39 Jahren, war der Basantapur noch nicht gerammelt voll mit touristischem Ethno-Kitsch und geifernden Händlern.

Gerammelt voll dagegen war der Durbar Square gleich ums Eck: mit jahrhundertealten Palastgebäuden aus Backstein, mit durch Schnitzkunstwerk verzierten Holzfenstern und Tempeln – so vielen Tempeln.

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An manchen Ecken der Altstadt Kathmandus hat man das Gefühl, als wäre die Zeit vor mehr als hundert Jahren stehen geblieben. Wäre da nicht die Armbanduhr…

Viele dieser Bauten rund um den alten Königspalast wurden beim großen Erdbeben von 2015 unwiederbringlich zerstört. Es gibt auch noch einen zweiten, moderneren Palast in der Stadt. Am Ende der Durbar Marg, dem Viertel mit den teuren Hotels. Der, sehr zum Ärgernis der grimmigen Gurkha-Wachsoldaten, immer wieder von Reisenden in Schlapfen und mit Handtuch unterm Arm mit einem Hallenbad verwechselt wird.

Ich bezog ein billiges Zimmer in der Freak Street in der Pagoda Lodge: um 10 Rupien pro Nacht, damals knapp 14 Schilling. Zimmer wäre zu viel gesagt. Es war ein einfacher, nicht ganz sauberer Holzverschlag mit zwei Betten, kratzigen Decken, Vorhängeschloss und einer Luke zum Innenhof. Durch diese Öffnung muss wohl die dreiste Ratte gekommen sein, die in der ersten Nacht meine Notration, eine Bergsteiger-Dauerwurst, samt Alufolie auffraß. Mein Vermieter grinste nur achselzuckend: "In Nepali house rats are everywhere!"

Oktober, früher Morgen. Es ist feuchtkalt und ich habe schlecht geschlafen. Nebelschwaden ziehen durch die muffig-morbiden Gassen. Es riecht nach Kerosin. Chai Wallahs hocken vor den Gasflammen ihrer Kocher und bereiten den traditionellen Milch-Tee Asiens zu.

Keuchen, Husten, schleifende Schritte. Trägerkolonnen tauchen aus dem Nebel. Schleppen mit dem Stirnriemen vollbeladene Lastenkörbe mit Geschirr, Teppichen und Gemüsen zu den kleinen Läden der Asan Tole, der alten Indien-Handelsstraße. Streunende Hunde, die die ganze Nacht wie verrückt gebellt haben, liegen nun erschöpft im Staub der Freak Street.

Die Straße erhielt ihren Namen durch die Hippies, die dieses Viertel ab den 1960er-Jahren geprägt haben. Für die Nepali waren es Freaks, die sich bis zum Abwinken vollkifften. Vom Kiffen kam der Appetit auf Süßes: Und so entstanden kultige Kuchen-Shops wie das Styled Pie oder in Pokhara das Hungry Eye. Das Angebot war sensationell: vom picksüßen Vanillepudding und zimtigen Apple Pie bis hin zum Kürbiskuchen.

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Straßenszene in Bhaktapur, der schönsten und urigsten aller drei Königstädte im Kathmandu-Tal.

Aber Nepal war im Wandel. Die meisten Hippies waren längst weiter gezogen, nach Goa in Indien, nach La Gomera auf den Kanaren oder sonstwohin, wo Drogen noch irgendwie geduldet waren. Die Dealer aber sind geblieben. Immerhin ist das Rauchen von "Ganja" (Cannabis) auch Teil der nepalesischen Kultur. Immer wieder werde ich im Flüsterton angesprochen:  "Hello! You like dope?" No! I don’t like. "You wanna buy a Gurkha knife?" Nein, ich will auch kein Gurkha-Messer kaufen. Enttäuscht zischt es aus von gekautem Betel rotgefärbten Zähnen: "Why the hell you come here?"

Und auch die Lokale rund um die Freak Street nahmen es damals mit den neuen Drogengesetzen nicht so genau. Im Cosmopolitan, dem Restaurant an der Ecke zur New Road mit fantastischem Ausblick auf den Basantapur-Platz, standen Haschisch-Kekse noch auf der Speisekarte und gegenüber im schummrigen Yin & Yang, wo man bei indisch-psychedelischer Musik im Langsitz auf gepolsterten Stufen am heimischen Star-Bier nuckelte, wurde Abend für Abend, immer nach dem obligaten Stromausfall, ein prall gestopfter, süßlich-herb riechender Chillum herumgereicht.

Trekking im Himalaja

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Unterwegs in den üppig-grünen Vorbergen des Himalaja.
Nepal_Kargl_19_2020_CMS.jpg August Kargl © August Kargl
Selbst kleine Brücken sind in Nepal oft abenteuerlich.
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Hochgefühl auf der Hochalm von Dughla im Solukhumbu.

Nach den Hippies kam der Kommerz. Und ab den 1980er-Jahren mutierte Nepal zum Traumziel einer jüngeren, sportlichen Generation. Trekking, das Wandern durch die Himalaja-Täler, war hoch angesagt. Und ehrlich gesagt: Es gibt keine schönere und nachhaltigere Art, Nepal zu bereisen, als zu Fuß.

Später ließen sich Mountainbiker für das ultimative Foto ihre Radln von Trägern bis zu den Gletschern hoch schleppen. Und ganz Furchtlose suchten den Kick beim Rafting in vom Schmelzwasser tosenden Himalaja-Flüssen wie dem Trishuli.

Das neue Szeneviertel Kathmandus hatte sich immer mehr in den Stadtteil Thamel verlagert. Wo immer neue Geschäfte entstanden. Hier gab es fast alles zu kaufen: Von Bronze-Shiva-Statuen über Bergausrüstung bis zum Paschmina-Schal. Und in Thamel gab es auch tolle Restaurants wie das tibetische Utse, das KCReinhold Messners Stammlokal, und später das Café Vienna, wo Herbert, der österreichische Wirt, einmal wöchentlich einen Ziegel Leberkäse aus dem Ofen holte.

Des Schreibers Liebstes aber war die alte Rum-Doodle-Bar. Hier trafen sich Bergsteiger, Trekker und immer wieder auch ein paar Freaks. Hier kursierten die abenteuerlichsten Geschichten: von höllischen Gletscherspalten, heroischen Gipfelsiegen bis zum heißen Gspusi im Kugelzelt. Und hier waren die Wände vollgekritzelt mit Autogrammen alpiner Celebrities. Selbst Sir Edmund Hillary, Erstbesteiger des Mount Everest, hatte sich im bröckelnden Putz verewigt.

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Unterwegs in den Reisfeldern um Changu Narayan. Kurz nach dieser Aufnahme hatte ich eine Begegnung mit einer grantig fauchenden Kobra.

Ich empfand Nepal als Oase. Im Vergleich zu Indien findet man hier als Reisender seine heilige Ruhe. Die Nepali sind zwar wissbegierig und neugierig, aber auch zurückhaltend. Anders als in Indien, wo man permanent von aufdringlichen Händlern und bettelnden Kinderscharen verfolgt wird.

Und Nepal ist gespickt mit Superlativen, etwa dem dramatischen Querschnitt. Auf einer Breite von 200 Kilometern erhebt sich das Land aus der indischen Tiefebene bis zum Gipfel des Mount Everest. Also fast von Meeresniveau bis in Höhen von weit über 8.000 Metern. Sieben der insgesamt 14 Achttausender überragen das kleine Königreich.

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Der Dhaulagiri, mit 8.167 Metern der siebthöchste Achttausender. Der direkte Durchstieg durch die mächtige Südwand ist bis heute eine der ungelösten alpinen Herausforderungen.

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Last Kingdom. Nepal war lange Zeit das letzte verbliebene Hindu-Königreich. Der Herrscher, Birendra Bir Bikram Shah Dev, wurde von den Nepalis als Reinkarnation der blassblauen Hindu-Gottheit Vishnu verehrt. Also ein Gott mit Harvard-Abschluss, Schnauzbart, getönter Hornbrille und einer Vorliebe für Johnnie Walker Black Label. Als dann in der Nacht des 1. Juni 2001 die gesamte Herrscherfamilie von Kronprinz Dipendra – so die bis heute vom Volk angezweifelte, aber offizielle Version – ermordet wurde, war das Ende der göttlichen Monarchie eingeleitet.

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König Birendra Bir Bikram Shah Dev auf einem 10-Rupien-Geldschein. Er galt bis zu seiner Ermordung als Reinkarnation der Hindu-Gottheit Vishnu.

Apropos göttlich. Fast an jeder Ecke in den Städten des Kathmandu-Tals finden sich Ganesha-Schreine. Ganesh, der sympathische Götterbote mit dem Elefantenkopf, ist der Liebling der Nepali. Er gilt als gnädiger, humorvoller und schelmisch-verspielter Gott, der gern auch Streiche spielt.

Die Nepali sind im Grunde gläubige Menschen, sehen Gottheiten fast überall: in Flüssen, Bergen, Steinen, sogar in Schlangen. Aber in der Altstadt von Kathmandu auf dem Durbar Square befindet sich ein besonderes Kuriosum: das Haus der Kumari, einer lebenden Kind-Göttin, die mit einsetzender Menstruation ihre Göttlichkeit wieder verliert. Ich sah ein Mädchen, kaum älter als fünf oder sechs Jahre. Die Kleine war rot gekleidet, trug dramatischen Lidstrich, die Haare hochgesteckt, mit goldenen Fäden drapiert. Als sie sich für wenige Sekunden am Fenster zeigte, ging ein Raunen durch die Menge. Und wilde Blicke gaben mir zu verstehen: Mach ja kein Foto!

Und quasi als himmlische Zugabe schauen gegenüber vom Kumari-Haus, dort wo die bunten Rikschas auf Kundschaft warten, Göttervater Shiva und seine Gemahlin Parvati aus dem Dachfenster des von höchster Schnitzkunst verzierten Shiva-Mandir-Tempels auf das profan-urbane Treiben herab.

Nepals Götter

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Buddhas Augen blicken vom Swayambhunanth-Tempel hinunter auf die Hauptstadt Kathmandu.
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Göttervater Shiva und seine Gemahlin Parvati am Dachfenster des Shiva-Mandir-Tempels und…
Nepal ÖAMTC Reisen © ÖAMTC Reisen
… gleich ums Eck der furchterregende Bhairava. Shivas schrecklicher, mordender Aspekt.

Auf insgesamt fünf Reisen hatte ich viele außergewöhnliche Begegnungen, tierische wie menschliche. Am grauslichsten fand ich den Ratten-Tempel in Patan. Ein unheimlicher Ort, wo es keine Katzen gibt, wo Mönche beten und mit den Nagern unter einem Dach hausen.

Und erst die Mäuse. In manchen Trekker Lodges der Bergtäler wimmelt es nur so von den quiekenden Viechern, die nächtens über die Schlafsäcke erschöpfter Wanderer jagen.

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Der Überlieferung zufolge gab es den Tempel von Swayambhunath schon vor mehr als 2.000 Jahren. Er gilt heute als der älteste buddhistische Stupa der Welt.

Unvergessen auch die provozierend-aggressiven Blicke der dominanten Affen-Männchen auf der steilen Treppe hinauf zum alles überragenden Swayambhunath-Tempel in Kathmandu.

Meine absoluten Lieblingstiere aber sind die Yaks. Eine Rinderart, die sich in den Hochtälern am wohlsten fühlt. Wohlig warm auch ihre Körpertemperatur. In den Bergen hab ich mich in klirrend kalten Morgenstunden zum Aufwärmen gern an die zotteligen Kraftlackl angelehnt. Sie sind die Lastenträger des Himalaja und doch erinnert ihr leichtfüßiger, tänzelnder Schritt an unsere Lipizzaner. 

Die Yaks: Lastenträger & Lebensmittel

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Die zotteligen Yaks sind die Kraftlackel des Himalaja. 
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Aber einmal im Jahr werden diese prächtigen Tiere geschlachtet. 
Nepal_Kargl_40_2020_CMS.jpg August Kargl © August Kargl
Ihr Fleisch gilt in den kargen Hochtälern als Delikatesse und es ist reich an Eisen und Zink.  

Das skurrilste Erlebnis meiner Nepal-Reisen hatte ich in der alten Königstadt Bhaktapur. Plötzlich war da ein Menschenauflauf und Geschrei: Ein Sadhu, ein Hindu-Heiliger, völlig nackt, hatte einen Strick um sein Gemächt gebunden. Unter frenetischen Anfeuerungsrufen und mit der Aussicht auf reichlich Bakschisch versucht er, mit seinem besten Stück einen voll beladenen Ochsenkarren wegzuziehen. Sein spiritueller Draht nach oben ist aber doch nicht stark genug: Die Übung misslingt.

Am späten Nachmittag wird rund um die Tempel aufgekocht. Für weniger als zwei Rupien mampfe ich täglich Momos: gedämpfte oder gebratene Teigtaschen mit Chili-Sauce. Nicht nur wegen des Chilis ist ein starker Magen gefragt. Der alte Teil von Nepals Hauptstadt Kathmandu verströmt einen gewöhnungsbedürftigen Geruch: eine Mischung aus Urin, Exkrementen, verfaulten Lebensmitteln, frischen Blumen, Kerosin und exotisch duftendem Rauchwerk, eine brutale Attacke auf all meine Sinne.

Bhutan und Nepal Raiffeisen Reisen © Raiffeisen Reisen
Heilig bis unheilig: ein Sadhu, ein Hindu-Heiliger, beim Kiffen.

Nepal war ein idealer Platz, um die traditionelle Lebensweise der Tibeter zu erleben. Besonders in den Jahrzehnten nach der Annexion Tibets durch China, als das Dach der Welt auch für geführte Reisegruppen verschlossen war.

Quietschende Gebetsmühlen und das monoton gemurmelte Mantra "Om mani padme hum" höre ich zum ersten Mal vor dem riesigen Stupa von Bodnath. Ich werde sogar eingeladen, auf eine Tasse fettig-ranzigen Buttertee. Dazu reicht man mir Tsampa: kleine staubtrockene Bällchen aus Gerstenmehl. Für Tibeter ein Power-Snack, für mich eine Qual.

Und von Bodnath aus sehe ich ihn zum ersten Mal – den Himalaja. Ich habe freien Blick auf die schneebedeckten Siebentausender-Gipfel des Ganesh-Himal-Massivs. Den Blick auf meinen ersten Achttausender – den Manaslu – hätte ich beinahe verschlafen, im Bus auf der sechsstündigen Fahrt nach Pokhara.

Little Tibet in Bodnath

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1 Bodnath war einmal ein beschaulicher Platz im Nordosten von Kathmandu. Doch die rasant wachsende Hauptstadt hat das kleine Dorf rund um den höchsten Stupa Nepals längst verschluckt. © auto touring

2 In Bodnath ist das Leben in all seinen Zügen tibetisch: das weltliche, aber auch… © auto touring

3 … das spirituelle. Tibetische Mönche praktizieren die philosophische Debatte im Kloster von Bodnath. © auto touring

Pokhara ist ein grandioser Platz. Mit faszinierendem Berg-Panorama von den Annapurnas bis hin zum Dhaulagiri im Westen und dominant im Vordergrund die 6.993 Meter hohe nepalesische XXL-Version des Matterhorns, der Machapucharé.

Weiße Riesen, die sich in einem See widerspiegeln, im Phewa Lake. Die Luft ist sauber, überall Vogelgezwitscher und Adler, die ihre Kreise ziehen. Der Ort liegt auf einer Höhe von 800 Metern, hier wachsen noch Bananen. Allein deshalb war Pokhara für Händler und Salz-Karawanen aus dem ariden Tibet seit jeher der Ort, wo Milch und Honig fließen.

Nepal_NEU_Kargl_41_2020_CMS.jpg August Kargl © August Kargl
Der Autor vor 39 Jahren auf dem Jomsom-Trek. Im Hintergrund der Machapucharé, die imposante Matterhorn-Version Nepals.

Pokhara war Ausgangspunkt für den sogenannten Coca-Cola-Trek nach Jomsom. Der Name rührt daher, weil hier schon früh Limo-Flaschen für durstige Trekker weit hinauf in die Bergtäler getragen wurden. Heute ist die Route großteils mit Geländewagen befahrbar, aber zu meiner Zeit war der Startpunkt noch mitten in der Stadt.

Vor dem Shining Hospital bin ich losmarschiert. Vorbei an den Annapurnas bis zum Dorf Jomsom und weiter zum heiligen Ort Muktinath. Das besondere an Muktinath ist die heilige Quelle, aus der ein brennendes Gas austritt. Für Hindus und Buddhisten gleichermaßen die Vereinigung der vier Elemente: Luft, Feuer, Wasser und Erde.

Nepal_NEU_Kargl_22_2020_CMS.jpg August Kargl © August Kargl
Leben in den Bergen. Neugierige Kinder in Naudanda. Im Hintergrund die Annapurna-Süd.

Die Anstiege über die Pässe der Vorberge wurden über Jahrhunderte für die Salz-Karawanen mit Steinblöcken befestigt, wurden so zu endlos-steilen Stiegen, die meine Oberschenkel brennen ließen. Es waren anstrengende Tage zwischen Fluchen und Faszination. Denn wenn die Wolken plötzlich die Sicht auf schneebedeckte Gipfel freigaben, war alle Müh vergessen.

Spektakulär der Blick vom Ghorepani-Pass auf den Dhaulagiri, den siebthöchsten Achttausender. Die direkte Durchsteigung der mächtigen Dhaulagiri-Südwand ist bis heute eine der ungelösten alpinistischen Herausforderungen im Himalaja.

Unterwegs im Himalaja

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Am Anfang des Jomsom-Treks führt der Weg durch idyllische Dörfer. 
Nepal_NEU_Kargl_39_2020_CMS.jpg August Kargl © August Kargl
Die längste Hängebrücke der Tour bei Lete am Weg nach Kalopani.
Nepal_Kargl_Nepal-Götterdämmerung_2020_CMS.jpg August Kargl © August Kargl
Wenn die Wolken aufreißen, wird der Blick frei auf die Himalaja-Gipfel. Im Bild der Thamserku im Khumbu-Gebiet. 

Aber nichts ist sensationeller, nichts spektakulärer als das Solukhumbu, diese unglaubliche Bergarena im Land der Sherpas am Südabhang des Mount Everest. Um hierher zukommen, musste ich mit einer kleinen Twin-Otter-Maschine nach Lukla fliegen. Lukla kann nur auf Sicht angeflogen werden, ist angeblich der gefährlichste Airport der Welt.

Mir war's egal, denn ich war endlich angekommen in meinem Bubentraum. Ich legte den Kopf in den Nacken und blickte hoch zum höchsten Punkt unserer Welt. Nirgendwo war ich glücklicher, nirgendwo mehr gefordert, nirgendwo fühlte ich mich stärker, nirgendwo stieg ich höher, nirgendwo hab ich mehr gekeucht und nirgendwo mehr gestrahlt. Achttausender wie der Mount Everest, der Lhotse und der Cho Oyu standen täglich vor mir. Irgendwann war ihr Anblick so normal wie der des Kirchturms daheim.

Und nach drei Wochen Traumwandern pulverisierte ich mit René, dem ersten Holländer auf dem Everest, in der Sherpa-Hauptstadt Namche Bazar auf 3.500 Meter einen sehr persönlichen Höhenrekord. In der Khumbu Lodge taten wir es den Sherpas gleich, die sich, bevor sie von einer Expedition heimkehren, immer noch einmal heftig besaufen. Denn auch wenn sie am Berg starke, zähe Mannsbilder sind, daheim nehmen ihnen die Frauen das gesamte schwer verdiente Geld ab. Das Leben ist nun einmal hart im Himalaja.

Ein Bubentraum wird wahr

Nepal_NEU_Kargl_mt_everest_02_2020_CMS.jpg August Kargl © August Kargl
Angekommen auf dem höchsten Punkt meiner Reise, dem Kala Patar auf einer Höhe von 5.643 Metern. Unter mir die mächtige Moräne des Khumbu-Gletschers. Und am Horizont der höchste Berg der Welt, der Mount Everest.

Nicht nur im Himalaja kann das Leben hart sein. Vor nunmehr 16 Jahren hat mir das Schicksal nach einer Erkrankung eine Querschnittlähmung und somit ein Leben im Rollstuhl beschert. Reisen ist zwar auch im Rollstuhl noch möglich, aber Trekking-Reisen nach Nepal nicht mehr.

Aber Rollstuhl hin oder her. Auch wenn diese Geschichte den Titel "Mein Nepal" trägt, so ist die Wahrheit genau andersrum. Denn dieses Land hat mich nie mehr losgelassen. In Gedanken bin ich immer wieder dort, wandere durch die Täler des Himalaja und lebe ihn wieder und wieder – meinen Bubentraum.

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