Reinhold Messner
© Messner Mountain Museum
© Messner Mountain Museum
Juni 2025

Der Berg muss wild bleiben

Wie Reinhold Messner die Kunst zu überleben gemeistert hat, welche Rolle Respekt und Langsamkeit am Berg spielen und was Sport von Alpinismus unterscheidet. Ein Gespräch über die Philosophie des Wahnsinns.

Sie haben bereits als Junge mit dem Bergsteigen begonnen. Noch immer zieht es Sie auf die Gipfel. Was ist es, das Sie an den Bergen fasziniert?

Wichtig für meine lebenslange Begeisterung war sicher, dass ich viele verschiedene Zugänge zum Berg gefunden habe. Als Kind habe ich zu klettern begonnen, dann wurde ich Höhenbergsteiger, weil ich als Kletterer durch den Verlust meiner Zehen nicht mehr so hoch, weit und schwierig klettern konnte. Dann wurde ich ein Abenteurer in der Horizontalen. Danach wurde ich Umweltschützer, weil ich erkannt habe, dass die Berge nur dann, wenn sie wild sind, einen enormen Erfahrungswert bieten.

Und diese Erfahrungen wollten Sie mit anderen teilen?

Was mich an Bergen fasziniert, habe ich in einer Kette von sechs Museen aufgearbeitet. Aktuell bin ich dabei, mit meiner Frau das Reinhold-Messner-Haus in Sexten im Pustertal zu gestalten, in dem die wesentlichen Werte, die zum Berg gehören, erörtert werden sollen.

Welche Werte sind das?

Bei den Bergen geht es um Stille, Unendlichkeit und Zeitlosigkeit. Das sind die Werte, die wir erfahren können, wenn wir in wilde Berge aufbrechen. Um sie für die Zukunft zu erhalten, werden wir uns sehr intensiv mit Nachhaltigkeit befassen müssen.

Im übertragenen Sinne und am wilden Berg: Haben Sie im Zuge all Ihrer Touren ein Rezept gefunden, wie man den richtigen Weg findet?

Es ist schon im Leben schwierig genug den richtigen Weg zu finden, am Berg ist es allerdings manchmal noch schwieriger. Eine wesentliche Rolle spielt deswegen immer die Haltung. Wenn ich auf einem Gipfel stehe, sage ich nicht "Berg Heil", sondern ich sage "Kalipé". Diesen Begriff verwenden Tibeter, wenn sie einen Bergkamm überqueren oder einen Berg meistern.

Was bedeutet er?

Das Wort heißt so viel wie: Immer ruhigen Fußes. Der Ausdruck gemahnt uns daran, dass die Geschwindigkeit nicht wichtig ist. Es ist die Langsamkeit, die beim Erleben des Berges zählt.

Der Weg erschließt sich einem also nur, wenn ausreichend Zeit vorhanden ist?

Ja, ob jemand in drei Tagen auf den Everest rennt oder dafür drei Monate braucht, ist kein Maßstab. Wenn es schnell gehen muss, steht oberflächliches Darbieten im Vordergrund. Kalipé bedeutet, in der Geschwindigkeit des Fußgängers voranzuschreiten und dabei bewusst die Natur wahrzunehmen. Wenn ich mit dem Helikopter über den Berg fliege, was heute passiert, dann kann ich keine echten Erfahrungen machen, weil dafür zu wenig Zeit bleibt.

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Nur wenn Berge wild sind, können wir vor ihnen Respekt entwickeln.

Reinhold Messner, Bergsteiger

Abgesehen vom Faktor Zeit: Was unterscheidet den traditionellen Alpinismus, für den Sie sich einsetzen, von dem, was heute auf manchen Bergen passiert?

Es ist die Art, wie Berge wahrgenommen werden. Sie hat sich mit der Zeit sehr verändert. Bergsteigen begann erst mit der Industrialisierung, als mehr Menschen die nötigen Mittel hatten. Davor gab es die Vorstellung, dass hoch oben auf den Bergen böse Geister hausen und Gefahren lauern. Der Berg wurde über Jahrhunderte als wild, schön, gefährlich und faszinierend empfunden. Das ist eine romantische Haltung, in der Angst eine Rolle spielt. Erst, seit die meisten Menschen ein Dach über dem Kopf und genug zu essen haben, hat man sich das Bergsteigen leisten können. Und damit sind auch all diese negativen Vorstellungen verschwunden. Der Respekt ist verloren gegangen. Dabei sind wir Menschen ein Nichts im Verhältnis zu den Bergen.

Was war die größte Herausforderung, der Sie sich bei einer Expedition stellen mussten?

Es war die Höhenkrankheit meines Bruders am Nanga Parbat. Wir waren knapp unter dem Gipfel, als die Nacht mit 40 Grad minus hereinbrach. Wir hatten keine spezielle Biwakausrüstung und mussten am nächsten Tag über eine unbekannte Wand absteigen. Dass ich das überlebt habe, ist ein reines Wunder.
Mein Bruder hat es leider nicht überlebt, weil er warten wollte, bis ich einen Weg ins Grüne finde. Denn diese Höhe ist voller Gefahren. Es gibt Gletscherspalten und Lawinen, die jederzeit abgehen können. In diesem Umfeld als älterer Bruder, der Verantwortung für den jüngeren trägt, Entscheidungen zu treffen, das war die schwierigste Aufgabe meines Lebens.

Gab es ein besonders schönes Erlebnis, das Ihnen das Weitermachen erleichtert hat?

Die Besteigung des Everest ohne Sauerstoffmaske gemeinsam mit Peter Habeler ging zum Beispiel wesentlich glatter, als wir gedacht hatten. Wir haben beim ersten Versuch auf 8000 Metern aufgeben müssen, weil ein fürchterlicher Sturm uns das Weitermachen verbot. Wir haben es ein zweites Mal versucht und es war auch wahnsinnig anstrengend. Wir wurden langsamer und langsamer, doch es ging ohne größere Reibung vonstatten. Und das, obwohl ich mir eine Schneeblindheit zugezogen habe. Allein wäre ich nicht mehr runtergekommen, weil ich zu wenig gesehen hätte.

Was ist es, das uns die lebensfeindlichen Höhen der Berge lehren können?

Der Berg bringt uns tiefen Respekt vor der Natur bei. Doch wenn die Menschen die Berge gar nicht kennen, weil sie ständig nur am Handy hängen, werden sie nicht in der Lage sein, sie zu schätzen, zu lieben und zu verteidigen. Das betrifft vor allem die Kinder. Wie sollen sie dann ein positives, schützendes Gefühl dafür entwickeln?

Was war Ihr persönlicher Antrieb, um sich immer wieder neuen, oft auch sehr gefährlichen, Herausforderungen zu stellen?

Immer dann, wenn ich etwas richtig gut kann, verliert es den Reiz für mich. Doch wenn ich mich einer neuen Herausforderung widme, muss ich wieder recherchieren, studieren, die Herausforderungen kennenlernen, Lösungen erarbeiten und dann selbst versuchen, ob es klappt. Testen, ob es mir gelingt, einen Schritt weiterzugehen, als meine Vorläufer gegangen sind.

Reinhold Messner © Messner Mountain Museum
Der Faszination Berg in all ihren Fasetten hat Messner eine Reihe von Museen und mehr als 50 Bücher gewidmet. 
Diane und Reinhold Messner © Messner Mountain Museum
Mit seiner Frau Diane schafft Reinhold Messner in einer aufgelassenen Bergstation gerade Raum, um über das Erlebnis Berg und über Nachhaltigkeit zu diskutieren.
Reinhold Messner © Messner Mountain Museum
Mit Vorträgen und Diskussionen setzt sich Messner für eine respektvolle Haltung gegenüber den Bergen ein. 

Ging es Ihnen vorwiegend darum, sich selbst zu überwinden, oder darum, besser als andere zu sein?

Mir geht es darum, besser zu sein als ich gestern war. Das passiert nur, wenn ich eine Herausforderung erfolgreich bewältige. Nur dann kann ich Selbstmächtigkeit entwickeln und sagen: Vielleicht geht sogar noch ein bisschen mehr! Herausforderungen zu lösen, an denen andere scheitern, ist aber auch eine große Triebfeder. Zudem besitzen wir Menschen die Fähigkeit, uns zu begeistern, wenn wir ins Unbekannte, ins Geheimnisvolle aufbrechen. Unsere Ideen werden zu Projekten und beim Umsetzen dieser Projekte entsteht gelingendes Leben. Gelungenes Leben ist langweilig.

Wieso?

Weil es bereits stattgefunden hat. Aber gelingendes Leben im Hier und Jetzt ist das, was den Menschen Glück schenkt. Das erkennen die meisten allerdings nicht. Vielfach auch, weil man dafür Wagnisse eingehen muss.

Fiel es Ihnen immer leicht, Risiken in Kauf zu nehmen?

Natürlich hatte ich vor einem großen Projekt auch Sorgen und Ängste. Kann das gelingen, könnte ich dabei umkommen? Doch nur, wenn ich dabei umkommen könnte, aber die Herausforderung meistere, nicht umzukommen – dann ist es wirklich eine Kunst! Diese Erkenntnis spaltet die Gesellschaft.
Die allermeisten halten diesen Denkansatz für verrückt. In Bergsteigerkreisen nannte man meine Herangehensweise die Philosophie des Wahnsinns.
Doch nur im Angesicht der Gefahr bin ich wirklich wach und respektiere den Berg.

Das ist etwas anderes als das, was heute am Everest passiert, mit dem Sauerstoff und den präparierten Pisten. Das ist Tourismus. Der Tourist braucht eine Infrastruktur, der Alpinist geht dorthin, wo keine Infrastruktur ist und wo er völlig auf sich selbst gestellt ist. Und wenn er wieder zurückkommt, ist das wie eine Wiedergeburt.

Welche Maßnahmen müssen ergriffen werden, um die Berge für zukünftige Generationen zu erhalten?

Mein Anliegen ist, dass weltweit verstanden wird, wie wir uns zu verhalten haben, wenn wir das Bergsteigen für die nächsten Generationen retten wollen. Es ist in Gefahr. Nachhaltigkeit wird der zentrale Faktor werden.

Wie kann Nachhaltigkeit auf den Gipfeln der Berge konkret aussehen?

Unser neues Reinhold-Messner-Haus in Sexten entsteht zum Beispiel in der Bergstation einer Seilbahn, die vor fünf Jahren aufgegeben worden ist. Die lokale Regierung hat verlangt, dass sie abgebaut werden muss. Das hätte ein Vermögen gekostet und Umweltschäden nach sich gezogen. Deswegen haben wir die Idee entwickelt, das Gebäude zu säubern und mit einem neuen Konzept zu beleben. Es ist ein Institut geworden, wo sich Interessierte und Wissenschaftler austauschen können. Es wird auch Ausstellungsflächen geben. Auf ihnen wollen wir erzählen, was man über das Erlebnis Berg, über Nachhaltigkeit, über sich und die Welt erfahren kann. Ein altes Gebäude zu retten und es weiter zu nutzen: Das ist Nachhaltigkeit.

Circa 24% der Fläche unserer Erde sind Berge. Das ist ein Raum, der sich einem Großteil der Menschheit überhaupt nicht erschließt. Ist das gut so?

Ja, denn nur wenn diese Berge so blieben, wie sie immer waren, behalten sie ihre Kraft. Es gibt so viele Berge auf dieser Erde, dass der Mensch nie die Möglichkeit haben wird, sie alle zu erschließen und zu erforschen. Es sind lediglich 20 Berge auf der Welt, die berannt werden, weil sie die höchsten Gipfel haben und die Menschen auf Rekorde aus sind. Ich habe nur die Sorge, dass sie mit der falschen Haltung zu den Bergen kommen und auf den Gipfeln Veitstänze ihrer Eitelkeiten aufführen.

Wäre Demut die richtige Haltung?

Ja, Demut gehört dazu. Wer die wirklich wilden Tage erlebt hat, ist demütig – oder im Grab.

Sie haben mehr als 50 Bücher geschrieben und mehrere Museen gegründet, um die Faszination Berg zu teilen. Was ist Ihre wichtigste Botschaft?

Die wichtigste Message heißt: Die Berge müssen wild bleiben! Nur wenn Berge wild sind, können wir vor ihnen Respekt entwickeln. Kann ich die Größe erfassen? Kann ich die Zerstörungskraft erfassen, die dazugehört? Ein Stein, der im Gipfelbereich ausbricht, kann 1000 Meter weiter unten einen tödlichen Steinhagel auslösen. Nur wenn jemand diesen wilden Bergen abseits der gesicherten Pfade begegnet, kann er Respekt entwickeln. Letzten Endes dient der Respekt auch den Menschen selbst.

Inwiefern?

Weil sie dann erst gar nicht in Regionen vordringen, wo sie nicht hingehören.

Wenn Sie auf so einen wilden Berg steigen: Was macht für Sie einen guten Bergkameraden oder eine -kameradin aus?

Die gemeinsame Identifikation mit dem Ziel ist besonders wichtig. Der Partner oder die Partnerin sollte aber auch die gleichen technischen Fähigkeiten mitbringen, um gemeinsam schwierige Situationen durchstehen zu können. Schließlich geht es darum, heil zurückzukommen.

Zur Person: Reinhold Messner

  • Erste Achttausender-Besteigung: Nanga Parbat im Jahr 1970 
  • Erste Solobesteigung eines Achttausenders: Nanga Parbat im Jahr 1978 
  • Erste Besteigung des Mount Everest ohne Flaschensauerstoff: 1978 zusammen mit Peter Habeler 
  • Erste Solobesteigung des Mount Everest ohne Flaschensauerstoff: 1980 
  • Besteigung aller vierzehn Achttausender: Zwischen 1970 und 1986, ohne Flaschensauerstoff 
  • Durchquerung der Antarktis: 1989/1990
  • Durchquerung Grönlands: 1993 
  • Durchquerung der Wüste Gobi: 2004 
  • Gründung des Messner Mountain Museum: ein Museumskomplex, der sich mit dem Thema Bergsteigen und Abenteuer beschäftigt 

www.reinholdmessner.com

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