Auf sagenhaften Spuren in Prag

Wie aus dem Nichts tritt plötzlich eine großgewachsene, blasse Frau zu uns. Ihre Erscheinung erinnert mich an eine Magd aus dem vorigen Jahrhundert. Die langen, roten Haare hat sie zu einem Zopf geflochten und ihre langen Röcke reichen über die Knöchel beinahe bis zum Boden. Ihre Gesichtsfarbe ist genauso blass wie das Weiß ihres gehäkelten Schultertuches. Sie überragt uns alle, sogar den größten Mann in der Gruppe um rund einen Kopf. Wer sie ist, will sie noch nicht verraten. Stattdessen beginnt sie von den Gespenstern Prags und ihren Schicksalen zu erzählen, während sie uns über die Kleinseite – den Stadtteil unterhalb der Prager Burg – führt. Von einem jungen Mann, dessen Liebe über den Tod hinaus gereicht und der in der Klárov Straße auch nach seinem Ableben die Liebste zum Traualter geführt hat.

Auf dem Wallenstein Platz verrät sie uns, wie ein Nachtwächter um seinen Kopf gekommen ist, und vor dem Abgeordnetenhaus in der Sněmovní-Straße lässt sie uns am Schicksal der nackten Cäcilie teilhaben. Immer mit dem dezenten Hinweis, wie man hier spuckende Prager Gespenster von ihrem Schicksal erlösen könnte.

Während es immer dunkler wird, setzen wir unseren Weg hinauf zur Prager Burg fort –begleitet von den tragischen Legenden schöner Frauen, die sich mit dem Teufel eingelassen haben. Unerwartet tritt aus einer Wandnische auf der Schlossstiege ein Mann mit schwarzem Seidenumhang und einer langen Fanfare in der Hand. Mit italienischem Akzent stellt er sich als Fabrizio vor und berichtet uns ohne Umschweife, gepaart mit Humor und vielen Gesten, warum er hier in Prag gehängt worden ist. "Finito – capite!"

Dann geht es weiter bis zum Loreto Platz und Jánsky Hügel. Immer wieder unterbrochen von kurzen Stopps, um dem einen oder anderen erzählfreudigen Gespenst zu lauschen, das unseren Weg kreuzt.

Ein Märchen? Ein böser Traum? Weit gefehlt – eine der zahlreichen interessanten Führungen, die vom Museum der Prager Legenden und Gespenster angeboten wird. Initiiert wurde dieser lebendige Einstieg in die Geschichte des alten Prags vor über 15 Jahren von Filip Jan Zvolský, der sich damit einen Lebenstraum erfüllt hat. "Ich bin auf der Kleinseite geboren, und so gehörten Legenden und Gespenster seit jeher zu meinem Leben." Der erste Gespenster-Spaziergang führte von der Kleinseite zur Prager Burg, später kamen Führungen durch verschiedene Stadtteile hinzu, z. B. von der Neustadt bis zum Vyšehrad, auf den Spuren des Heiligen Wenzel und Agnes und zu den unbekannten Seiten der Karlsbrücke. Klingt es nicht verlockend, mit einem Wassermann andere Wassermänner zu besuchen?

Und für alle, die nicht an Übersinnliches glauben – die bleiche, großgewachsene Frau, die die Gruppe anfangs in Empfang genommen hat, heißt Anna Hrdlová, ist auf der Kleinseite als das größte Klatschweib verschrien und lebte zu Zeiten des bekannten Alchemisten Edward Kelly. Unmöglich? Nicht für die Prager Gespenster.

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