In der Ruhe liegt die Kraft

Jetzt erst verstehen wir, warum die Honda Gold Wing für manche das beste Motorrad der Welt ist. Um zu dieser Erkenntnis gelangen zu können, mussten uns offenbar aber erst einmal graue Haare wachsen.

Dies ist nicht die erste Gold Wing, auf der ich Platz genommen habe. Mein Einstieg erfolgte mit der GL1800-Reihe, das war kurz nach der Jahrtausendwende. Damals allerdings war mir die Jugend noch näher als die Lebensmitte, die Lust an der Geschwindigkeit größer als die Sehnsucht nach Komfort. Dem Knackig-Direkten hätte ich seinerzeit jedenfalls jederzeit den Vorzug gegenüber dem Bedächtig-Behäbigen gegeben.

1. Aber: Das einfache Handling dieses Riesen-Trumms hat mich seit der ersten Begegnung überrascht, vor allem wenn man es in Relation zu Größe und Gewicht der Gold Wing betrachtet hat. Zur Überraschung gesellte sich einige Jahre später sogar noch Faszination, als Honda die Topcase-befreite Bagger-Variante F6B nachreichte. Hui, war die lustig zu fahren.

2. Aber: Der Motor. Dieser superfeine 6-Zylinder-Boxermotor mit seiner absolut geschmeidigen Charakteristik, enorm druckvoll, herrlich laufruhig. Dieser Motor, und darüber herrscht, glaube ich, an jedem Motorrad-Stammtisch Einigkeit, der fasziniert.

Mit anderen Worten: Ich vermochte zwar die Vorzüge der Gold Wing zu erkennen, das Faszinierende am Motorradfahren aber, dieses Gaudium, das für mich damals auf dem Erlebnis von Wind, Schräglage, Geschwindigkeit und Freiheit fußte, das vermochte ich nicht intensiv genug zu verspüren.

Seit diesen Aufeinandertreffen sind mittlerweile einige Sommer vergangen, zu weiteren gemeinsamen Ausflügen kam es nicht mehr. 

Gedankensprung. Länderwechsel. November 2017. Wir sind auf der größten Motorradmesse der Welt, der EICMA in Mailand, Italien (über die Trends und Highlights haben wir hier referiert). Honda hat eine komplett neue Gold-Wing-Generation angekündigt – neuer Motor, eine andere Art der Vorderradaufhängung, schlankeres Design, noch mehr Multimedia-Features, Doppelkupplungs-Getriebe, und und und. Die Ankündigungen im Vorfeld ließen nichts weniger als eine Reinkarnation des Luxus-Tourers erwarten.

Und so kam es auch, …

… die neue Gold Wing auf der EICMA 2017

First Contact. Oder eher: Welcome Back? 

Angesichts des Gesehenen fühlte ich, dass es Zeit war, ein neues Kapitel in der Beziehung zwischen der Gold Wing und mir zu schreiben. Ein paar Monate sollten noch vergehen, doch dann war es soweit. Ich stand neben ihr. Was es wohl werden wird? Ein Wechselbad der Gefühle? Eine komplett neue Erfahrung? Home Sweet Home? 

Frage an Sie: Was sehen Sie auf diesen Bildern?

Ein ­hypertechnologisches Ungetüm? ­Eine Couch auf zwei Rädern? Den Inbegriff der Fehlinterpretation des Fortbewegungsmittels Motorrad?

Und wie reagieren Sie darauf? Ablehnend? Mit ­einem mitleidigen ­Lächeln? Kopfschüttelnd?

All diese Gedanken und Reaktionen stehen Ihnen natürlich zu, aber möglicherweise werden Sie die nach einer Probefahrt mit der neuen Honda Gold Wing zumindest teilweise revidieren. Warum? Weil sie überraschend anders ist, ziemlich sicher nicht so, wie Sie sich das vorurteilsbehaftet vorgestellt haben. Nur muss man tatsächlich erst einmal mit ihr gefahren sein, um das zu verstehen. 

Besser noch: Man verreist mit ihr, plant lange Etappen, ohne das Kurvige zu scheuen oder den Beifahrer daheim zu lassen. Sie kann nämlich alles erstaunlich gut, Letzteres fast perfekt: Ausfahrten zu zweit sind purer Genuss, weil Windschutz und Sitzkomfort kaum Spielraum für Kritik bieten, motorisch passt’s sowieso. Wie laufruhig, gleichmäßig und gleichzeitig druckvoll sich der neu entwickelte Sechsyzlinder-Boxermotor (nun ein 24-Ventiler) in Szene setzt, das sollte man erlebt haben. Im Vergleich zur K1600 von BMW verfügt sie zwar über ein deftiges Power-Manko, das nominell allerdings mächtiger erscheint, als es sich im Realbetrieb anfühlt.

Tatsächlich cruist man auf einer Gold Wing so entspannt dahin wie auf kaum einem anderen Motorrad. Kann aber, das ist gleichzeitig der größte Unterschied zum Vorgängermodell, wenn der Straßenverlauf kurviger wird, immer noch ein Schäuferl zu­legen, richtig vergnüglich wird das. 

Im Sportmodus ent­wickelt sie gar eine Bissig­keit und Dynamik, die an die zuvor erwähnte BMW erinnert. Was noch? Technologisch neugierig sollten Gold-Wing-Lenker sein. Vor allem, wenn es sich um die vollausgestattete Gold Wing Tour handelt, somit Topcase (leider etwas klein geraten), Doppelkupplungs-Getriebe (feine Sache!) und Airbag (nach wie vor einzigartig) nebst einem üppigen Multimedia­system (Apple-Car-Play-tauglich!) bereits an Bord sind. Dabei hapert es weniger an der Bedienbarkeit (die Tasten sind allesamt recht gut erreichbar und deutlich beschriftet, die Bedienung selbst logisch aufgebaut), als eher an der Fülle an Steuerungs-Funktionen, die anfangs vom Geschehen vor dem Vorderrad ablenken. Es dauert schon ein Zeiterl, bis man weiß, was wo verändert werden kann.

In Bildern: Gold Wing Tour, Jahrgang 2018

Fazit: Die neue Gold Wing ist ein großer Wurf, eines der stimmigsten Motor­räder derzeit. Diese Attribute muss man ihr zugestehen, ob man sie mag oder nicht. In meinem persönlichen Fall kommt noch hinzu, dass ich sie in dieser Form erstmals richtig zu schätzen gelernt habe. Möglicherweise ist’s mein fortgeschrittenes Alter, sichtbar an so manch grauem Haar und der deutlich gestiegenen Lust am Gemütlichen, das mich ihr näher brachte. Vielleicht ist’s aber auch ihr deutlich moderneres, athletischeres Auftreten, das sie für mich begehrenswerter machte. 

Oder um es mit einem Refrain von Wolfgang Ambros zu trällern: "Wir san uns manchmal völlig fremd doch froh, dass wir uns hab'n, wir hab'n uns und wir hab'n uns gern, und langsam wochs' ma z'amm."