Meine Zips

Die Zips in der Slowakei: Als Kind langweilte sich Autor Kurt Zeillinger dort. Heute ist das Land unter der Hohen Tatra, aus dem ein Teil seiner Vorfahren stammt, für ihn ein Sehnsuchtsziel.

Eigentlich wollte ich ja gar nicht hin. Aber als Kind hatte ich ja keine andere Wahl, als damals, in den 1960er-Jahren, mit meinen Eltern in die Zips zu fahren, ins Land am südlichen Rand der Hohen Tatra, des kleinsten Hochgebirges der Welt. Denn die Familie meiner Mutter stammte aus der kleinen deutschen Sprachinsel in der nördlichen Slowakei, die heute fast in Vergessenheit geraten ist.

Rückblende: Sie selbst war dort aufgewachsen, bis sie im Winter 1944 mit einem Flüchtlingstreck weg musste. Die Rote Armee war schon bedenklich nahe und Familien wie ihrer drohte Schlimmes. Selbst dann, wenn sie die Nazis verachteten, die die Tschechoslowakei okkupiert, den Staat gespalten und in der neu ausgerufenen Slowakei eine Marionetten-Regierung von Hitlers Gnaden eingesetzt hatten, geführt von einem Priester. Doch die meisten meiner Vorfahren hatten bei der Volkszählung 1930 "Deutsch" als Umgangssprache angegeben. Das sollte bald gefährlich werden.

Alle aus der Familie waren also auf der Flucht Richtung Westen. Alle? Fast alle. Mutters Tante Liesel war dageblieben, um ihre 84-jährige Mutter, die nicht mehr mobil war, zu pflegen. Und den Hof mit der 140 Hektar großen Land- und Forstwirtschaft in den schweren Zeiten, die alle kommen sahen, zu sichern.

Was ihr, um jetzt etwas vorzugreifen, nicht gelang: Alles wurde ersatzlos enteignet, auch ihr, obwohl sie sich weniger als Deutsche als vielmehr als Ungarin fühlte. Sie war noch in der Monarchie aufgewachsen, da gehörte das Gebiet zur ungarischen Reichshälfte und die Unterrichtssprache war ungarisch.

Eben dieser Tante Liesel – eigentlich meiner Großtante – begegnete ich als kleines Kind in den 1960er-Jahren zum ersten Mal. Der Eiserne Vorhang war (für uns Österreicher) eben ein Stück aufgegangen, meine Mutter, die damals so etwas wie ihre Lieblingsnichte gewesen sein dürfte, fuhr mit mir im Bus nach Bratislava/Pressburg. Wir checkten für eine Nacht im Hotel ein, die Tante, die aus der Zips angereist war, ebenso. Familienleben in homöopathischen Dosen quasi.

Bela: Tatra statt Mittelmeer

Familienleben unter schwierigen Voraussetzungen gab es danach regelmäßig. Bald war es möglich, dass wir die Tante in der Heimat meiner Vorfahren mütterlicherseits besuchen konnten.

Ab diesem Zeitpunkt fuhren meine Eltern mit mir nicht, wie andere Eltern mit ihren Kindern, ans Meer, sondern eben in die – damals für mich langweilige – Zips. Jahr für Jahr verbrachten meine Eltern mit mir mindestens eine Woche in Spišská Belá/Zipser Bela, im kleinen Gartentrakt des ehemaligen Stadthauses von Dr. Michael Greisiger, eines einst angesehenen Arztes und Forschers (eine von ihm entdeckte Spezies eines Höhlenflohs wurde nach ihm benannt). Dessen Nutzung hatte man seiner Tochter Edith Elektra weiterhin erlaubt.

Die einzige Bedingung dafür: Sie musste das schmucke Kleinstadthaus der Gemeinde überschreiben, die daraus einmal ein Museum machen wollte. Nutzen durften sie und ihre Cousine, unsere Tante Liesel, auch das Blumenhaus, die Scheune und den Garten, in dem sie Gemüse und Blumen anbauten und das, was sie nicht selbst brauchten, quasi schwarz verkauften.

Das Bild unten stammt aus dem Jahr 1966 und zeigt das heute nicht mehr existierende Blumenhaus. Auf der Bank davor sitze ich zwischen meiner Mutter und Tante Liesel, ganz links deren Cousine Edith Elektra.

Badezimmer hatten die beiden Damen keines, für ihre Körperpflege mussten sie auf dem Holzherd in der Küche Wasser wärmen, das sie in einen Bottich gossen. Wenigstens das Plumpsklo über einer Jauchegrube im Hof durften sie verwenden, frühmorgens leerten sie den Inhalt ihrer Nachttöpfe hinein. Und in diese Welt musste ich als Volksschüler eintauchen.

Dass das alles nichts mit Primitivität zu tun hatte, sondern mit Politik, ahnte ich erst viel später. Ich empfand die Tage in Bela ziemlich langweilig: die Gespräche, die sich vorwiegend um alten Familienkram drehten, die Treffen mit Schulfreundinnen meiner Mutter, die Slowaken geheiratet hatten und deshalb in ihrer Heimat bleiben durften, und die gelegentlichen Ausflüge in die Hohe Tatra. Die brachten mir oft ein Paar neuer Schuhe (ich erinnere mich an die "Trampki" von Bata, eine Art frühe Ostblock-Sneakers), einmal in einem Ausflugsgasthaus auch eine Torte mit einer eingebackenen Biene ein.

Jetzt, im reiferen Alter, zieht es mich aus sentimentalen Gründen fast jedes Jahr in die Zips. Nach viereinhalb Autostunden ist Bela stets mein erstes Ziel. Es ist fast wie ein Ritual: Im Schritttempo rolle ich am Greisiger-Haus vorbei, biege zwei Mal rechts ab und halte an der Rückseite des Hauses. Genau dort, wo einst Scheune und Plumpsklo standen, ist in den Siebzigern ein Sozialbau hochgezogen worden.

Was dessen Bewohner denken, wenn sie mich mit der Kamera aussteigen sehen, ist mir egal. Mein Motiv ist immer das gleiche: Der Gartentrakt, in dem die Tante und ihre Cousine lebten – heute ein Pensionistenclub –, und der Gingko-Baum, den Dr. Greisiger vor über 100 Jahren daneben pflanzte.

Das Schloss der Baronesse

Mein nächstes Ziel ist bei jeder meiner Zips-Reisen auch immer das gleiche: Strážky/Nehre. Ein paar Kilometer zurück entlang von Feldern und Wiesen, immer mit der Hohen Tatra im rechten Seitenfenster. So wie schon vor 55 Jahren.

Rückblende: Mein Vater saß am Steuer und ich als kleiner Bub neben ihm – ohne Kindersitz und Gurte, denn so etwas gab es damals noch nicht. Unser Ziel war das Schloss in Nehre, sechs Kilometer von Bela entfernt.

Dort ließ man die Schlossherrin, Baronesse Margit Czobel, gnadenhalber in einem kleinen Kammerl wohnen – das feudale Anwesen hatte man ihr weggenommen und verkommen lassen. Wir hatten der im wahrsten Sinn des Wortes uralten Freundin der Tante Liesel die von ihr so geliebten Menthol-Zigaretten mitgebracht, klopften an die Tür und traten ein und sahen sie, uns den Rücken zukehrend, am Tisch sitzend.

Ohne sich umzudrehen und uns auch nur eines Blickes zu würdigen, intonierte sie in bestem Burgtheater-Deutsch: „Euch schickt der Himmel. Ihr kennt doch sicher einen Tiroler Passionsspielort mit drei Buchstaben…!“

Die Tochter des letzten Barons war die Nichte des berühmten ungarischen Malers Ladislaus Mednyánszky, eines Adeligen, dessen Familie 1861 das Schloss direkt an der Popper, des größten Flusses der Zips, bezog. Die hoch gebildete, zaundürre Frau war ebenfalls Malerin, wahrte auch unter den größten Entbehrungen Haltung und hatte ihre Marotten: Täglich – auch im Winter – stieg sie vom Schlosspark in den eiskalten Fluss, um sich abzuhärten.

Das war übrigens nur möglich, weil es ihrem Vater sehr viel Geld wert gewesen war, dass die Eisenbahn über zwei von ihm finanzierten Brücken einen Bogen um seinen Besitz machte und für ein Stück ans andere Ufer wechselte.

Fast täglich ging die Baronesse zu Fuß die fünf Kilometer nach Bela, um die Tante und ihre Cousine zu besuchen. Und regelmäßig löste sie die Rätsel in den deutschsprachigen Zeitschriften, die sie sich von dort holte. Meine Mutter versorgte ihre Familie mit Lesefutter von Für Sie über den Stern bis zum Goldenen Blatt.

Dass das Schloss nach der Wende perfekt renoviert werden sollte und heute ein Museum beherbergt, konnte Margit Czobel freilich ebenso wenig ahnen wie die Tatsache, dass die Nationalgalerie in der Hauptstadt Bratislava/Pressburg ihr einmal eine Retrospektive ihres eigenen Schaffens widmen würde.

Als ich mir die ansah, staunte ich nicht schlecht, als ich dort ein Foto aus ihrem Nachlass entdeckte, dass sie in Bela bei Tante Liesel und ihrer Cousine Edith Greisiger zeigte. Beim genaueren Hinsehen bemerkte ich, dass sogar meine Mutter auf dem Bild war. Und ich den Fotografen sehr gut kannte: Es war mein Vater. Das Bild entstand an jenem Tag, als wir ihr den Ort Erl für ihr Kreuzworträtsel nannten und sie anschließend nach Bela mitnahmen...

Der Mittelpunkt der Zips

Wie bereits gesagt, komme ich seit der Wende wieder regelmäßig in das Land unter der Hohen Tatra. Und nie alleine. Anfangs waren stets Verwandte mit von der Partie, die ihre alte Heimat wiedersehen oder das Land ihrer Eltern und Großeltern kennenlernen wollten. In den letzten Jahren kommen oft Freunde mit, die die Zips nur aus meinen Erzählungen kennen und auch einmal selber kennenlernen möchten. Denn ein paar Tage dort sind auch für Menschen ohne familiären Hintergrund ein schöner Ausflug in eine Welt, die sie bislang nicht auf ihrem Radar hatten.

Ein Fixpunkt auf diesen Reisen ist stets Kežmarok/Kesmark, die Bezirkshauptstadt (Autokennzeichen KK) und das kulturell stark aufgeladene historische Zentrum der Zips, seit dem 13. Jahrhundert eine Freistadt und bis zum Ende des 2. Weltkriegs das Zentrum der deutschen Besiedelung in den Karpaten (die Hohe Tatra ist ein Teil dieses Gebirges). Von Nehre ist es nicht mehr weit dorthin.

Relikte aus der Zeit vor 1945, als dort noch Deutsch gesprochen wurde, finden sich bei genauem Hinsehen noch einige. Etwa das kleine Straßenschild "Feuerwehrplatz" (siehe Bild oben) gegenüber der alten Feuerwehrgarage.

In Kesmark nehme ich mir Quartier für ein paar Tage, meist im Vier-Stern-Boutiquehotel Hviedzoslav mitten im Zentrum. Und zum Abendessen treffe ich mich stets mit meinem Freund Bystrik – über ihn werde ich noch berichten – und oft auch mit dem Historiker Milan Choma im Restaurant U Jakuba. Dort wird die deftige Kost der Region serviert. Mein Favorit: Bryndzové Halušky, Brimsennockerln.

Rückblende: Als ich zum ersten Mal in Kesmark war, ging ich noch an der Hand meiner Mutter. Sie, die Vorzugsschülerin und Maturantin am dortigen Gymnasium, besuchte mit mir eine Schulfreundin von damals, die in der Zips bleiben durfte und nie von Vertreibung bedroht war, weil sie einen Slowaken geheiratet hatte. Tante Liesel schärfte uns allen ein, nur ja nicht auf der Straße Deutsch zu sprechen – das könne schlimme Folgen haben.

Heute ist in Kesmark alles viel entspannter. Im Slowakischen, der Sprache, die meine Mutter schon in der Volksschule als Zweitsprache erlernt hatte, kann ich gerade einmal von eins bis zehn zählen und grüßen – diese mangelhaften Kenntnisse bedauere ich mittlerweile. Nach der Wende traf man noch oft alte Menschen, die gut Deutsch sprachen, heute kommt man überall problemlos mit dem Englischen durch, das praktisch alle unter 40 gut beherrschen.

Durch die verkehrsberuhigten Gassen der Altstadt zu flanieren, vorbei an den unzähligen farbenfrohen Giebelhäusern mit ihren spätmittelalterlichen Schwibbögen, dicken Mauern und überdachten Hofdurchfahrten, ist wie ein Spaziergang durch ein sehr lebendiges Freiluftmuseum. Hinter jeder Ecke faszinieren neue, ungeahnt pittoreske Ausblicke, oft auf Kesmarks Kirchen, Juwele der Baukunst, und auf die Burg.

Nach der Wende schien hier alles noch devastiert, danach wurden sich die Stadtväter ihres Schatzes bewusst und förderten Sanierungen. Restaurants, Cafés, kleine Hotels und Pensionen zogen ein, auch kleine Geschäfte (die großen wie Billa und Lidl haben ihre Outlets außerhalb des Stadtkerns). Um es kurz zu machen: Kesmark ist meine Lieblingsstadt in der Zips. 

Kesmarks Kirchen

Wirklich ansehen sollte sich jeder, der nach Kesmark kommt, die Kirchen der Kleinstadt mit ihren 17.000 Einwohnern. Da sticht jedem, der mit dem Auto gekommen ist, zuerst einmal eine große, in rötlicher Farbe gehaltene Kirche ins Auge: die neue evangelische Kirche.

Wer sie als etwas orientalisch anmutend empfindet, liegt richtig: Entworfen wurde sie im neobyzantinischen Stil eigentlich (je nach Quelle der Überlieferung) für Anatolien oder Jerusalem. Und zwar von einem ganz prominenten Architekten, von Theophil Hansen, von dem ja auch die Pläne für Arsenal, Parlament und Musikverein in Wien stammen.

Zu ihm in seiner Funktion als oberster Reichsarchitekt pilgerte 1870 eine Delegation der Kirchengemeinde nach Wien – mit großen Visionen, aber ganz kleinem Budget. Hansen zog einen nicht verwirklichten Entwurf aus seiner Schreibtischlade, den er den den Kesmarkern schenkte. Weil der Geldmangel der Gemeinde ein chronischer war, konnte das Gotteshaus aber erst 1894 vollendet und eingeweiht werden.

1909 wurde an der Ostseite ein Mausoleum für den Fürsten und Anti-Habsburg-Aktivisten Imrich Thököly (1657–1705) angebaut. Noch heute legen viele Ungarn dort Kränze mit rot-weiß-grünen Schleifen nieder.

Mutters Cousine Enid, die heute in Regensburg lebt, zeigte mir einmal ein kleines Detail in einer der rechten vorderen Reihen: das Namensschild ihrer Mutter, die in erster Ehe Kiss hieß. Es ist noch immer (oder schon wieder?) blank poliert. Ich setze mich dann auf ihren Platz, denke an sie (ich durfte sie noch kennenlernen) und genieße die Stille.

Die kulturhistorisch bedeutendste Kirche (wahrscheinlich des ganzen Landes) liegt nur ein paar Meter weiter: die evangelische Holzkirche – ja, sie ist wirklich ganz aus Holz! Kein einziger Nagel steckt in ihr, kein einziger Ziegel auf ihrem Dach, nur hölzerne Schindeln. Sie stammt aus der Zeit der religiösen Unterdrückung der Protestanten, die ihre Gotteshäuser nur aus Holz, ohne feste Grundmauern, ohne Turm und Glocken bauen durften. Der heutige Bau wurde 1717 in der unglaublich kurzen Zeit von drei Monaten im Barockstil errichtet. Dem Stil entsprechend wird das Innere von opulenter Freskenmalerei und vielen verspielten Details geprägt. 

Die Akustik in der Kirche ist übrigens so gut, dass Karel Gott hier einst einige seiner Langspielplatten einspielte. Für den Eintritt wird ein kleiner Obolus verlangt, Erklärungen gibt es auch in deutscher Sprache.

Wird von Kirchen gesprochen, sind auch Friedhöfe meist nicht weit. In unserem Fall ist einer nur zwei Minuten Fußweg entfernt und durch ein unscheinbares Tor zu betreten. Er ist ziemlich groß und weist eine absolute Besonderheit auf: An seinen Rändern befinden sich die eindrucksvollen Grabdenkmäler der Familien der ehemaligen deutschsprachigen Bevölkerung der Stadt. Sie wurden aber nicht geschliffen wie anderswo, sondern werden von den heutigen Bewohnern, die ihre Gräber und Grabkreuze wiederum davor platziert haben, quasi mitgepflegt. Wenn ich durch den Friedhof spaziere, sind die deutschsprachigen Inschriften für mich wie ein Streifzug durch die Geschichte.

Nicht schlecht staunte ich, als Tante Marianne, eine von Mutters Schulfreundinnen, bei einem gemeinsamen Besuch des Friedhofs einmal Blumen mit hatte, die sie auf einen Grabstein mit ihrem eigenen Namen legte. Makaber? Nicht wirklich. Sie habe eine ältere Schwester gehabt, die ihre Eltern Marianne nannten, die aber nur ein paar Tage alt wurde. Ein Jahr nach deren Beerdigung bekamen sie wieder ein Mädchen – das sie, weil sie ja ursprünglich eine Marianne wollten, wiederum so nannten.

Diese Marianne ist vor zwei Jahren gestorben. Ich kannte sie, seit ich als Kind mit meinen Eltern in Bela war, und sie hat mich von Bratislava/Pressburg aus, wo sie lebte, in die Zips begleitet. 

Die Keimzelle meiner Familie

Bevor ich das Zipser Reiseziel (konkret: die Bergwelt der Hohen Tatra) ansteuere, das auch für die meisten anderen von Interesse ist, noch ein Einschub auf dem Weg dorthin. Ich fahre über eine Nebenstraße von Kesmark aus sechs Kilometer direkt auf die Gipfelwelt der Hohen Tatra zu, die sich majestätisch am Ende der Ebene aufbaut.

Rückblende: Um 1930 ist mein Großvater diesen Weg, damals noch asphaltfrei, nach Rakusy/Roks gefahren – als evangelischer Pfarrer im ersten und bis dato einzigen Auto im Dorf, einem Tatra 30. Fünfzehn Jahre zuvor hatte er Helene geheiratet, die Tochter einer wohlhabenden Familie von Landwirten, Ochsenzüchtern, Leinwandproduzenten und Spiritusbrennern. Und wiederum ein paar Jahre danach brachte eines der hofeigenen Gespanne seine Tochter – meine Mutter – zum ersten Mal ins Lyzeum nach Kesmark. Vorbei an den Sumpfwiesen, aus denen der Torf für die Brennerei gestochen wurde, vorbei an den Feldern, an denen sie Flachs anbauten, vorbei an den Trollblumen, die hier Juni für Juni sattgelb am Straßenrand blühen.

Heute ist der Weg meine absolute Lieblingsstrecke. Wenn ich sie fahre, höre ich mir jedesmal Louis Armstrongs Wonderful World an und male mir aus, wie es wohl ohne den bekannten Lauf der Geschichte gekommen wäre – wie es wäre, wenn meine Verwandten noch hier lebten.

Ich halte das Auto vor dem Haus des Urgroßvaters an: der Hof steht noch. Läute an. Herr und Frau  K. öffnen, heißen mich willkommen. Auch ihre Familie, die ursprünglich woanders lebte und zwangsweise in das enteignete Haus unserer Familie einziehen musste, ist ein Opfer der Geschichte. 

Rückblende: Tante Liesel hat übrigens schon viel früher ausziehen müssen, hat ein paar Monate in einem Lager im Kesmarker Stadtschloss zugebracht. So wie sie wurden auch die meisten verbliebenen deutschsprachigen Bewohner interniert und konnten tageweise zum Arbeitseinsatz "gemietet" werden. Was ihre Cousine Edith Elektra in Bela auch tat, um ihr wenigstens eine tageweise Auszeit zu ermöglichen. Als die Tante bemerkte, dass bei der Rückkehr ins Lager niemand Notiz von ihr nahm, blieb sie eines Tages ganz in Bela, als U-Boot. Nach Auflösung des Lagers konnte sie ihren Aufenthalt bei der Cousine letztendlich legalisieren. 

Familie K. hat das Anwesen in den letzten Jahren mustergültig instandgesetzt. Vieles aus dem Haus meiner Urur- und Urgroßeltern wurde belassen, etwa die kleinen Kästen, die meine Vorfahren in die Türrahmen der meterdicken Mauern eingebaut hatten. Sie dienen jetzt als Aufbewahrungsort für Geschirrtücher. Die beiden Kachelöfen im ersten Stock, der rote im ehemaligen Roten Salon, der grüne im ehemaligen Grünen Salon. Im Erdgeschoß haben die K.s sogar bis zu 200 Jahre alte Wandmalereien freigelegt. Im Garten blüht alles. In den Stallungen sind zwar keine Tiere mehr, aber eine restaurierte Kutsche. Wer weiß, vielleicht war meine Mutter damit ins Gymnasium gebracht worden.

Meine Mutter wuchs nicht auf dem Hof auf, sondern im evangelischen Pfarrhaus. Sie war aber oft zu Besuch bei ihren Großeltern. Die Kirche, in der ihr Vater Pfarrer war, liegt schräg gegenüber. Als mir Bystrik, der im heutigen Haus der Familie K. aufwuchs, bis vor kurzem Bürgermeister von Roks war und zu einem guten Freund geworden ist, vor ein paar Jahren die Kirche aufsperrte, rieselte es mir kalt den Rücken herunter: Da lag doch auf der Kanzel tatsächlich ein Gesangsbuch aus dem Jahr 1937. Damals, ein Jahr vor seinem Krebstod, war mein Großvater noch Pfarrer. Er könnte genau dieses Buch in der Hand gehabt haben.

Immer wenn ich in Roks bin, besuche ich natürlich auch sein Grab auf dem Friedhof gleich hinter seiner Kirche. Die Familiengräber werden heute von Bystrik und seiner Familie gepflegt und von Nachfahren bezahlt. Viele Gräber geflüchteter oder vertriebener Familien wurden nach Jahrzehnten des Verfalls leider liquidiert, weil niemand für ihr Weiterbestehen aufkommen wollte.

Rückblende: Zu den Gräbern gibt es noch eine Geschichte. Meine Tante Liesel begann 1944, als die Familie sich dem Treck nach Westen anschloss, ein Tagebuch zu schreiben, in dem sie die Irrnisse und Wirrnisse vor und nach dem Ende des Krieges bis ins Jahr 1947 beschrieb. Weil sie alle Personen, die sie damals drangsalierten, beim Namen nannte, hätten die Hefte für sie zur Gefahr werden können. Sie vergrub sie, in Alu-Dosen verpackt, im Familiengrab unter einem Ligusterstrauch.

Kurz bevor sie 1969, als ihre Cousine Edith verstorben war, zu meiner Großmutter nach Bayern auswanderte, holte sie die Dosen aus der Erde und übergab sie meinem Vater. Der transkribierte sie, verteilte das Transkript im Familienkreis und übergab es einem zeitgeschichtlichen Archiv. Dort wurde es von einer neuen Archivarin vor fünf Jahren als zeitgeschichtliches Dokument wiederentdeckt. Mittlerweile ist ein Buch daraus geworden ("Von der Geschichte vergessen. Das Rokser Tagebuch"), zu dem meine Tante Enid das Vor- und ich das Nachwort schrieben.

Auf dem Weg in die Tatra

Mein Ur-Urgroßvater Jakob Lersch, dessen Grab im mittleren Foto der Bildleiste oben zu sehen ist, dürfte so etwas wie ein Visionär gewesen sein. Denn auf sein Konto geht das allererste Haus in der Tatra, das nicht für die Arbeit oder zum Wohnen gebaut wurde, sondern ausschließlich für Freizeit-Zwecke. Den Begriff gab es damals noch nicht, aber er wusste ganz genau, was er sich auf einer Waldlichtung errichten ließ: eine einstöckige Villa aus Holz, zu Fuß in einer Stunde von Roks zu erreichen. Quasi ein Prototyp für den Tatra-Tourismus.

Zusammen mit Bystrik gehe ich gerne den Weg dorthin, für Autos ist er heute nicht mehr befahrbar. Die ganze Umgebung ist übrigens Naturschutzgebiet. 

Das Haus wurde irgendwann um 1948 von irgendjemandem abgefackelt. Zusammen mit Verwandten und Google Earth habe ich die Stelle, an der es stand, gefunden. Am Rand der großen Lichtung (und nirgendwo anders) wachsen heute Birken und Goldregen, gepflanzt von den Ahnen.

Mit dem Bau der Eisenbahn war oft auch die Entwicklung des Fremdenverkehrs verbunden: am Semmering, in den Dolomiten, in Opatija/Abbazia – und auch in der Hohen Tatra. Die Bahn konnte Leute, die sich einen Urlaubsaufenthalt leisten konnten, bequem ins Gebirge oder ans Meer bringen, wo neue Hotels in einer bislang nicht gekannten Dimension entstanden. Auch in der Zips erkannte man das Potential, das die Bahn brachte.

Rückblende: Es traf sich gut. Etwa drei Jahrzehnte zuvor, nach der Revolution des Jahres 1848, hatten die adeligen Großgrundbesitzer ihre Latifundien zum Großteil verkaufen müssen, wohlhabende Familien (darunter die Vorfahren meiner Mutter) schlugen zu und kauften Land. Auch in der Nähe der Kaschau-Oderberger Eisenbahn am Fuße der Hohen Tatra. So entstanden auf Almgebiet in rund 1.000 Meter Seehöhe mondäne Grandhotels. Auch ein Zweig meiner weitverzweigten Familie mütterlicherseits – die Familie Weszter – hatte vor 120 Jahren einen Kurort begründet und ihn "Weszterheim" benannt.

Viele der Grand Hotels erfüllen ihren Zweck noch heute. So wie das noch etwas höher auf 1346 Meter gelegene Kempinski am Štrbské Pleso/Tschirmer See.

Einmal gönnte ich mir eine Nacht im wahrscheinlich teuersten Hotel der Slowakei und wachte am Morgen danach oberhalb der Wolkendecke auf.

Hinauf zu den Sherpas

Weil die Eisenbahngesellschaft beim Errichten der Bahn auch gleich eine Schmalspurbahn vom Flachland hinauf zum Tschirmer See dazu baute, sind heute fast alle Tatra-Luftkurorte bequem mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu erreichen. Vor ein paar Jahren fuhr ich mit Fotograf Heinz Henninger mit dieser Art Berg-Tram vom Tschirmer See nach Starý Smokovec/Alt-Schmecks, um von dort mit einem Sherpa zu einer Schutzhütte aufzubrechen.

Sherpa? So nennen sich die Lastenträger in der Hohen Tatra, die in Ermangelung von Straßen und Materialseilbahnen die Hütten mit ihren Buckelkraxen versorgen. Es sind vorwiegend Studenten, aber auch gut trainierte Pensionisten. Einen aus dieser Gruppe hatte uns Bystrik vermittelt.

Franz Kafka und die liebe Familie

Rückblende: Es war 1921, als in Europa die Tuberkulose ihrem Höhepunkt zusteuerte. Medikamente gegen die Lungenkrankheit gab es noch keine, nur die Empfehlung, möglichst viel Zeit ruhend an frischer Luft und Sonnenschein zu verbringen, am besten in den Bergen. Der Prager Dichter Franz Kafka, damals nur einem kleinen Freundeskreis als literarisches Ausnahmetalent bekannt, litt an Tuberkulose und kam in die Tatra, deren Hotels rasch zu Sanatorien adaptiert wurden. Im Luftkurort Tatranské Matliare/Matlarenau fand er eine Anstalt, die ihm geeignet erschien.

Ebenfalls auf Kur war dort gerade Susanna Galgon, eine Verwandte meines Großvaters. Kaum zu glauben: Sie, die einfache Frau vom Land, freundete sich mit Kafka und dessen dort ebenfalls kurenden urbanen Umfeld an, unternahm mit den feinen Stadtmenschen Spaziergänge und schaffte es bis in die Sekundärliteratur. Von Hartmut Binder bis Klaus Wagenbach verwenden sämtliche Biographen das Bild Kafkas mit den Kur-Freunden, das er seinen Eltern schickte, samt dem dazugehörigen Brief. Es schien ihm etwas peinlich zu sein, dass sich Susanna auf dem Foto mit ihrem Kopftuch inmitten der vornehmen Gesellschaft befand: Auf der Rückseite, auf der er die abgebildeten Personen beschrieb, notierte er: "Susanna Galgon (Hut in Reparatur)".

Da das Bild, das leicht über "Kafka" und "Susanna Galgon" gegoogelt werden kann, leider nicht rechtefrei ist, kann es hier nicht gezeigt werden. Stattdessen hier ein Foto des Denkmals, das an seinen Aufenthalt erinnert. Kafka hat die Tuberkulose übrigens nicht überlebt, er starb drei Jahre später daran.

Zu guter Letzt noch ein paar Tipps:

Sollten Sie wirklich einmal die Zips, das unbekannte Land, kennenlernen wollen, so habe ich noch ein paar Tipps für die Anreise. Die funktioniert bis Poprad/Deutschendorf auch recht bequem mit der Bahn – aber dann wird es haarig. Das Auto bleibt also erste Wahl. Vergessen Sie aber bitte nicht, sich eine Autobahnvignette zu besorgen.

Die Route sollte stets über Bratislava/Pressburg führen. Am besten stellen Sie Ihr Fahrzeug in Bratislava in eine Garage und drehen eine Runde zu Fuß durch die sehenswerte Altstadt. Danach fahren Sie auf der Autobahn D1 bis zum (vorläufigen) Ende bei Žilina/Sillein und folgen immer den Schildern Richtung Košice/Kaschau. Die Route führt auf einer viel befahrenen Bundesstraße weiter den Fluss Váh/Waag entlang. Bald darauf ist wieder ein Stück Autobahn angesagt, gefolgt vom einem letzten Abschnitt auf der Bundesstraße 18.

Einen kurzen Stopp können Sie knapp vor Ružomberok/Rosenberg einlegen. Salaš Krajinka, eine Art Schafs-Bauernhof mit Restaurant und Imbiss-Kiosk, bietet viele eine Fleisch-und Käse-Spezialitäten.

Kurz vor Liptovský Mikuláš garantiert wieder die D1 ein flottes Vorwärtskommen. Bald hinter einem großen Stausee werden Sie zum ersten Mal die Gipfel der Tatra sehen. An der Ausfahrt Poprad verlassen Sie die D1 und fahren je nach Quartier Richtung Vysoké Tatry/Hohe Tatra oder Kežmarok/Kesmark.

Einen ersten Eindruck von der Zips und ihren historischen Ortskernen bekommen Sie in Spišská Sobota/Georgenberg. Und sollten Sie noch weitere landschaftliche und kulturelle Höhepunkte ansteuern wollen, blättern Sie einfach in diesem Bilderbuch:

Das also ist "meine" Zips. Ich hoffe, dass ich sie auch heuer im Corona-Jahr noch besuchen kann. Wenn möglich im Spätsommer, denn "der Winter in der Tatra dauert von Mitte September bis Ende Mai", wie die dort lange Zeit lebende Tante Marianne immer sagte.

Einmal wollte ich es wissen: Ich kam im Winter nach Kesmark. Wenn der frische Schnee die Straßen bedeckt, ist die Stimmung dort vielleicht gar noch etwas romantischer.