Mein Wilder Westen

Zwischen Stille, Selbstfindung und Star Wars: Die endlose Wüste im Südwesten der USA ist mir mein liebstes Sieb, um unwichtige Alltagsbefindlichkeiten auszusortieren. Eine Liebeserklärung an das Nichts, mit dem wir heute so schwer umgehen können.

Als ich 2012 zum ersten Mal an die US-Westküste kam, wusste ich nicht, was nur drei Fahrstunden Richtung Osten vom Flughafen der kalifornischen Mega-Metropole Los Angeles entfernt auf mich warten sollte.

Natürlich: Die berüchtigten Santa-Ana-Winde der Region – auch Teufelswinde genannt, weil sie regelmäßig dafür sorgen, dass dort halbe Bundesstaaten abbrennen – wehen einem schon beim Verlassen von "LAX", so der internationale Code des Airports, aus der Umgebung der Stadt einen Duft in die Nase, der an mediterrane Gefilde erinnert. Auch wenn dieses typische Odeur der Auto-City L.A. – ein mutmaßlicher Mix aus Pinien, Lavendel und allerlei Kakteen-Zeugs – freilich immer mit einer penetrant-süßlichen Brise verbrannten Billig-Benzins aus Millionen betagter Achtzylinder-Motoren versetzt ist.

An diesem sonnigen Novembertag vor acht Jahren stand ich da nun also – mit Markus Zahradnik, meinem besten Freund und Fotografen vieler Geschichten, die Sie im auto touring lesen. Wir waren ziemlich neugierig angesichts der Situation in der für uns an diesem Tag neuen Gegend, in die wir uns in den folgenden Jahren noch unsterblich verlieben sollten.

Markus fragte: "Wohin jetzt, Herr Löger?"
Ich antwortete: "Raus aus der Stadt, Herr Zahradnik."

Gleich vorweg: Typische Touristen-Hotspots wie die Hollywood-Studios in Los Angeles oder der unfassbar nervige Sünden-Moloch Las Vegas interessieren mich nur bedingt, weshalb wir diese im folgenden auch einfach links liegen lassen.

Mir geht es vielmehr um die schwer zu beschreibende Natur im Landesinneren der Region, samt ihrer Ecken und Kanten – um meine Wüste.

The Desert. <br />
Roseate metallic blue<br />
and insect green,<br />
blank mirrors and<br />
pools of silver.<br />
A universe in one body.

Jim Morrison, The Doors (1943–1971)

Anza Borrego – meine erste Wüstenliebe

Kaum drei Stunden dauert es, vom kalifornischen Flughafen Los Angeles in die "Anza-Borrego" zu gelangen. Das 2.500 Quadratkilometer große Gebiet ist zwar nur ein winzig kleiner Teil der riesigen Sonora-Wüste im Südwesten der USA (320.000 Quadratkilometer Fläche), für mich war es aber mein erstes Zusammentreffen mit einer Natur, die ich so noch nie zuvor gesehen, gespürt und vor allem nicht gehört hatte.

Die erste Empfindung, an die ich mich erinnere: absolute Stille. Und damit meine ich nicht die bloße, für unsere geplagten Ohren alltagzivilisatorische Abwesenheit von modernen Störgeräuschen, die uns gelehrt haben, sie automatisch auszublenden, weil man sonst verrückt würde – sondern eine definitive Stille, wegen der ich mich ernsthaft gefragt habe, ob mit meinem Gehör wirklich alles in Ordnung ist.

An diesem Tag wehte in der menschenleeren Anza Borrego kein Wind, wir haben das Auto neben der kaum befahrenen Straße abgestellt, sind eine halbe Stunde lang ins Nirgendwo gewandert, haben uns nebeneinander in den Sand gesetzt, einfach einmal sehr lange nichts gesprochen und stattdessen mit allen Sinnen das aufgesaugt, was viele Menschen vergessen haben – die Schönheit des Nichts.

Anza Borrego – mein ewiger Lieblingsplatz in den USA. Es war damals Liebe auf den ersten Blick, und ich komme seitdem immer wieder gerne her für ein einsames G'spusi in Sachen "Lehre von der Leere".

Streiflichter aus der Wüste, Teil 1

Exkurs 1: Star-Wars-Drehorte

Diesen Teil der Geschichte hat mein kleiner Sohn eingefordert – in seinem überzeugten Selbstverständnis, der "größte Star-War-Fan von aller Zeit" zu sein und mit der Bitte, dass ich darüber berichten möge.

Na gut: Zum Jahreswechsel 2018/2019 habe ich mit ihm drei der originalen Drehorte der Filmreihe im Niemandsland zwischen Kalifornien und Nevada besucht – allesamt im berühmten Death Valley, dem "Tal des Todes", gelegen.

Ich selbst habe bis auf den ersten Teil der "Star Wars"-Saga bisher zwar noch keinen der Filme gesehen, mir ist ihre kulturelle Bedeutung aber nicht erst seit Sohnemanns Sternen-Wahn bewusst. Allein die Filmmusik ist ja legendär – aktuelles Beispiel: Hollywood-Soundtrack-Guru John Williams, der im vergangenen Mai das Vienna Philharmonic Orchestra dirigieren durfte.

Vielleicht sind ja Leserinnen und Leser unter Ihnen, die in der Materie bewanderter sind als ich und den folgenden drei Fotos die entsprechenden Filmszenen zuordnen können – Hinweise gerne unten per Kommentar-Funktion.

Exkurs 2: mein skurrilstes Wüsten-Erlebnis

Normalerweise zählt das unwirtliche Death Valley zu den heißesten Punkten der Erde – am 10. Juli 1913 wurde hier etwa eine Temperatur von sagenhaften 56,7 Grad Celsius gemessen.

Im Jänner 2019 allerdings wurde Foto-Markus und mir die Ehre zuteil, ein selbst in den Wintermonaten hier überaus rares Wetter-Ereignis zu erleben: Schnee. 

Streiflichter aus der Wüste, Teil 2

Was mich die Wüste gelehrt hat

Für jemanden wie mich, der in der Eigenwahrnehmung ein Selbstbild von sich hat, das für alle plötzlich auftauchenden Lebensumstände stets die totale Kontrolle über das Geschehen vorsieht, ist ein Aufenthalt in der Wüste immer wieder ein wunderbar brutales Regulativ der Natur, das mich lehrt, dass es diese vermeintliche Kontrolle schlicht so nicht gibt. Hier ist für derlei egozentrische Einstellungen nämlich einfach kein Platz. 

In dieser Gegend gibt es – bis auf einen gewissen Eigenschutz – nichts, bei dem man als Mensch mitreden kann, wenn sich die Natur kurzfristig etwas anders überlegt. Egal, ob das unvorhersehbare Wetter-Kapriolen oder sonstige Spezialitäten in Sachen Flora & Fauna betrifft. 

Ich komme als 43-jähriger noch aus der Übergangs-Generation, die ohne Handy eine Kindheit am oberösterreichischen Land verbringen durfte, dennoch werde ich heute als Erwachsener bei langen Touren durch die USA (etwa bei der Nord-Süd-Durchkreuzung der Mojave-Wüste) unrund, wenn ich über Stunden keinen Empfang habe. Was, wenn jetzt das Auto aufgibt in der mörderischen Hitze? Man will ja nicht enden wie jene deutsche Touristen-Familie, die sich 1996 mit dem Mietwagen in der Wüste verirrt hat und deren Überreste – Vater, Mutter, Kinder – seitdem verstreut im Death Valley gefunden werden.

Im Prinzip empfinde ich eine Reise durch diese Gegend als Rückbesinnung auf früher: eine Zeit, in der ein "Plan B" nicht sekundenschnell am Smartphone zu regeln war. Sprich: Wenn man hierher kommt, muss man vorher ein wenig nachdenken und planen – Routen, Wasservorrat, Tankstellen, Distanzen. Da kommen durchaus wieder einmal konventionelle Landkarten aus Papier samt Stift & Zettel ins Spiel.

Und: Man ist – mittlerweile leider ungewohnt – einfach gezwungen, mit Einheimischen zu sprechen. Die wissen hier nämlich über aktuelle Verkehrsprobleme, etwa wegen "flash floods", schneller Bescheid als jeder Verkehrsfunk.

Schönes Erlebnis auch für mitreisende Kinder: Dass das in der Schule gelernte Englisch mit jenem in der "echten" Welt angesichts lokaler Dialekte meist sehr, sehr wenig zu tun hat.

Und natürlich, noch einmal: die unendliche, pure, harsche Natur. Inklusive der für uns heute unvorstellbaren Möglichkeit, tagelang keinerlei Kontakt mit Menschen haben zu müssen, sondern nur zu können – und das auch nur dann, wenn man das aus eigenen Stücken will. 

"Mein Wilder Westen" ist für mich vermutlich bloß eine Flucht aus dem gewohnten, durchorganisierten, von unzähligen elektronischen (vermeintlichen) Helferleins begleiteten Alltag, den ich zwar nicht mag, aber akzeptieren muss.

Gut 10.000 Kilometer ist mein "Befindlichkeits-Sieb" von Wien entfernt, ich kann es also selten nützen – speziell jetzt zu Corona-Zeiten. Aber: Die Wüste wartet ja nicht auf mich, sondern umgekehrt. Hoffentlich bin ich bald wieder geduldet. Sie fehlt mir.

Zum Schluss: 10 persönliche Lieblings-Tipps

1) Rund um Borrego Springs sind auf weitläufig verstreuten Flächen über 130 Metall-Skulpturen in der Wüste versteckt – von riesigen Dinosauriern bis hin zu meterhohen Skorpionen oder Heuschrecken. Es gibt keinen besseren Wüsten-Spaziergang, vor allem mit Kindern. Das Kunstprojekt heißt Galleta Meadows und ist hier zu finden.

2) Dante's View: Vorhin schon bebildert, führt der halbstündige Abstecher von der Landstraße über eine sehr kurvige Berg-Route zum vielleicht schönsten Aussichtspunkt über das berühmte Death Valley. Zumindest ich kenne keinen imposanteren Rundumblick.

3) Rachel, Nevada: Im kleinen Restaurant "Little A'Le'Inn" gibt's den wohl einsamsten Kaffee der USA (der sogar gut ist). Einen Kilometer östlich des 90-Einwohner-Dörfchens befindet sich die (natürlich nicht angeschriebene) Abzweigung zu einer Schotterstraße, die ins legendäre "Area 51" führt.

4) Übernachten: Zwei spezielle Hotels, die ich wegen ihrer Geschichte sehr gern mag – zum einen das seit über hundert Jahren unveränderte "Mizpah" in Tonopah am nordwestlichen Rand des Area-51-Sperrgebiets, zum anderen das "Boulder Dam Hotel" in Boulder City östlich von Las Vegas, das jenes "alte Amerika" ausatmet, das Touristen oft vergeblich suchen. Beide natürlich privat geführt.

5) Mein stellvertretender Lieblingsort für eine typische "America Town" – also eine nicht vom Tourismus befleckte US-Kleinstadt der alten Schule: Lone Pine. In der dortigen Filiale der Fast-Food-Kette "Carl's Jr." durfte ich schon dreimal den besten Burger meines Lebens verzehren – im wunderschönen Park samt Spielplatz gleich daneben. 

6) Die beste "Foto-Opportunity" an der Route 66: Roy's Motel & Cafe in Amboy, Kalifornien. Die einst aufgelassene und heute sanft wiederbelebte Tankstelle an der ehemaligen "Mutterstraße" der USA taucht wegen ihres Standpunkts in der Einöde immer wieder in Filmen auf ("Kalifornia" mit David Duchovny und Juliette Lewis oder – für Kinder – "Cars" mit Lightning McQueen). Grund: das ikonische Schild neben der Straße.

7) Bombay Beach. Wegen seiner absoluten Traurigkeit vielleicht kein Ort für jeden Besucher – aber ich mag ihn, weil hier das "echte Amerika" passiert. In Bombay Beach, am oben erwähnten toten "Salton Sea" gelegen, trifft man Menschen, die vom vielzitierten großen Traum ihres Landes eher weniger haben. Im Prinzip ist es eine "Dritte Welt" im reichsten Land der Erde. Die Regisseurin Alma Har'el hat über die Siedlung eine preisgekrönte Doku gedreht – allein beim Trailer zieht es mir alles zusammen.

8) Der am einfachsten zu bewerkstelligende Wüsten-Ausflug mit dem Auto, um diese grandiose Natur hautnah zu erleben: der "Red Rock Canyon Scenic Drive". Die 21 Kilometer lange Einbahn durch das Naturschutzgebiet ist vor allem zu Sonnenaufgang schlicht atemberaubend. Mein Aufmacher-Foto oben zu dieser Geschichte wurde übrigens dort geschossen.

9) Eine Nacht im Death Valley: Im "Tal des Todes" gibt es weit und breit im Prinzip nur zwei Möglichkeiten, um sich nach einer langen Fahrt auszuschlafen. Eine davon (in Furnace Creek) ist ein überteuertes Ressort-Hotel samt Tankstelle mit Apotheker-Preisen – Finger weg. Die andere ist das "Stovepipe Wells Village Hotel" ein paar Kilometer weiter. Dort gibt's gutes Essen, eine authentische Cowboy-Bar, praktikable Zimmer zu vernünftigen Preisen und – mangels Lichtverschmutzung, wie sie die Konkurrenz ein paar Meilen weiter praktiziert – den ärgsten Sternenhimmel, den man sich vorstellen kann. Die Betreiber schalten zu Sonnenuntergang sogar die komplette Außenbelichtung des Hotels ab, um Gästen den wahren Himmel über Nevada zu zeigen. Eine echte Empfehlung.

10) Ok. Ich habe meine – mehrere tausende Songs umfassende – Wüsten-Playlist im Vorfeld dieser Geschichte wirklich gut durchforstet. Mit dem Ziel, die endgültig "beste Wüsten-Nummer" aus allen Sparten der Musikgeschichte zu finden. Liebe Leserinnen und Leser – Ich komme leider immer wieder nur auf eine zurück: The Doors – My Wild Love. Sie sind aber herzlich eingeladen, mir bessere Vorschläge zu schicken…