Verständnis statt Frust
Im Straßenverkehr ärgern wir uns fast täglich. Die Schuld suchen aber nur die wenigsten bei sich. Woran das liegt und wie es gelingt, rücksichtsvoller zu sein.
Die gute Nachricht gleich zu Beginn: Auf Österreichs Straßen sterben immer weniger Menschen. Zwar hat die Statistik Austria im vergangenen Jahr noch 351 Tote bei Verkehrsunfällen gezählt, allerdings war das der zweitniedrigste Wert seit Beginn der Aufzeichnungen. Zum Vergleich: Im Jahr 1972, dem bisher "schwärzesten" der heimischen Verkehrsgeschichte, ließen 2.948 Menschen auf der Straße ihr Leben.
Gründe für diesen Rückgang sind Prävention, bessere Führerscheinausbildung (Mehrphasen), neue Fahrzeugtechnologien und natürlich eine strengere Gesetzgebung. Allerdings: Während die Zahl der Todesopfer im Straßenverkehr immer weiter sinkt, ist jene der Schwerverletzten 2024 im Vergleich zum Vorjahr deutlich angestiegen – und zwar gleich um acht Prozent auf 7.774 Personen. Besonders auffällig: Die meisten Schwerverletzten gab es bei Fahrrad- und E-Scooter-Nutzer:innen (2.828), was in dieser Gruppe einem signifikanten Anstieg von 15 Prozent entspricht.
Aber bitte Vorsicht! Würde man sich auf den Stammtischen des Landes umhören, wären die Hauptschuldigen meist recht schnell gefunden – je nach Klientel freilich mit auseinanderklaffenden und subjektiven Ergebnissen: Überzeugte Autofahrer:innen echauffieren sich dort nämlich über wilde Radler:innen. Fußgänger:innen wiederum fühlen sich von rücksichtslosen E-Scooter-Lenker:innen gefährdet – und so weiter.
Wie könnten wir vermeiden, dass es überhaupt so weit kommt? Eines ist schließlich klar: Das Thema "Miteinander im Straßenverkehr" berührt jeden – egal, ob man zu Fuß, per Rad, im Auto oder einem öffentlichen Verkehrsmittel unterwegs ist. Allen ist gemein, dass sie gesund heimkommen möchten.
Auf einen Blick: Worum geht's im Artikel?
Aggression, Handy-Ablenkung, Stress und fehlende Empathie sorgen dafür, dass Österreich im Straßenverkehr international ziemlich schlecht abschneidet – trotz stetig sinkender Todesfälle.
Was fehlt den heimischen Verkehrsteilnehmer:innen also, um besser zu werden? In erster Linie Rücksicht und auch der Wille, sich in andere "hineinzufühlen". Wir schildern anhand konkreter Tipps, was zu tun wäre, um in Zukunft für ein respektvolleres Miteinander im Straßenverkehr zu sorgen.
Jede ablenkende Tätigkeit, so banal diese auch erscheinen mag, kann negative Auswirkungen auf das Fahrverhalten haben.
Marion Seidenberger, ÖAMTC-Verkehrspsychologin
Häufige Gründe für Verkehrsunfälle
Die häufigsten Gründe für Verkehrsunfälle in Österreich sind Ablenkung bzw. Unachtsamkeit, nicht angepasste Geschwindigkeit und Vorrangverletzungen. Allesamt Ursachen, die vermeidbar wären. Beim ersten Punkt spielt vor allem die Verwendung von Smartphones und das Schreiben von Textnachrichten während der Fahrt eine Rolle. Und: Technische Entwicklungen im Auto erhöhen zwar den Sicherheitsstandard, werden durch eine komplizierte Cockpit-Bedienung aber zum wachsenden Problem.
Von Ablenkungen sind natürlich nicht nur Autofahrer:innen betroffen, sondern auch Radfahrer:innen und Fußgänger:innen. Bei diesen beiden Gruppen resultieren bis zu 40 Prozent aller Verkehrsunfälle aus Ablenkung, etwa durch das Tragen von Kopfhörern auf der Straße.
Eine ÖAMTC-Untersuchung, die an drei Kreuzungen in Wien in den Morgen- und Nachmittagsstunden durchgeführt wurde, zeigt die Entwicklung in der Praxis: Während der Hauptverkehrszeiten wurden über 1.600 abgelenkte Verkehrsteilnehmer:innen erfasst. "Die beobachteten Personen waren mit diversen erkennbaren Zusatzaufgaben befasst oder mit Kopfhörern unterwegs, teils wartend, sich annähernd oder querend", so ÖAMTC-Verkehrspsychologin Marion Seidenberger.
Ablenkung als Unfallursache
Von den rund 480 Pkw-Lenker:innen war mehr als die Hälfte in ein Gespräch vertieft. Der Hauptanteil der abgelenkten Personen betraf aber die Gruppe der Fußgänger:innen, die zu knapp 43 Prozent mit Kopfhörern unterwegs waren.
Jede ablenkende Tätigkeit, so banal diese auch erscheinen mag, kann negative Auswirkungen auf das Fahrverhalten haben.
Marion Seidenberger, ÖAMTC-Verkehrspsychologin
Die rund 270 Radfahrer:innen wurden mehrheitlich (84 Prozent) ebenfalls mit Kopfhörern gesichtet, genau wie rund 70 Prozent der 45 E-Tretroller-Fahrer:innen. Seidenberger: "Jede ablenkende Tätigkeit, so banal diese auch erscheinen mag, kann negative Auswirkungen auf das Fahrverhalten haben. Die Fehlinterpretation der eigenen Leistung kann zu gefährlichen Unfällen führen, vor allem, wenn schwächere Verkehrsteilnehmer:innen beteiligt sind."
Interessant: In der Regel sind sich speziell Auto-Lenker:innen durchaus bewusst, dass Ablenkungen zu gefährlichen Fahrfehlern führen können. Eine repräsentative Online-Umfrage des ÖAMTC dazu zeigte, dass Gespräche mit dem Bei-/Mitfahrer, das Telefonieren während der Fahrt oder Musikhören klar als ablenkende Tätigkeiten eingeschätzt werden.
Fazit: Ablenkung bleibt nach wie vor die führende Ursache für tödliche Verkehrsunfälle in Österreich und spielt bei mehr als jedem dritten Todesfall im Straßenverkehr eine zentrale Rolle.
Dazu kommen weitere Gefahrenquellen wie Kreuzungen und Einmündungen, wo oft Vorrangregeln missachtet und rote Ampeln überfahren werden. Gefahrenpunkte sind auch Bahnübergänge ohne Schranken oder mit schlechter Einsicht sowie "Zebrastreifen", die insbesondere für Kinder gefährlich sind, da rund ein Viertel aller Unfälle mit ihnen dort passiert. Soweit die Fakten, was aber geschieht in unseren Köpfen, wenn wir unterwegs sind?
Aggression im Straßenverkehr
Blicken wir kurz nach Großbritannien: Das Königreich hat nämlich in einer Studie zum Thema "Aggression und Rücksichtslosigkeit im Straßenverkehr" kürzlich den ersten Platz für den geringsten Aggressionswert aller untersuchten Länder erzielt. Die Briten gelten demnach als besonders vorsichtig, rücksichtsvoll und freundlich. Ein möglicher Grund: Sie erlernen schon in der Fahrschule die Bedeutung von Empathie und respektvollem Verhalten gegenüber anderen. Und Österreich?
Unser Land markiert in der Studie den vorletzten Platz vor Lettland. Eine ÖAMTC-Umfrage aus dem Vorjahr bestätigt das schlechte Ergebnis, denn ein Viertel aller Österreicher:innen erlebt jeden Tag irgendeine Form von Aggressivität auf der Straße: riskantes Überholen, Drängeln, dichtes Auffahren, Vorrangverletzungen. Gleichzeitig gibt in der Umfrage aber kaum jemand zu, selbst "aggressiv" zu fahren.
Grundsätzlich ist Aggression jene Emotion, die uns am häufigsten im Straßenverkehr begegnet und zudem besonders schnell im Griff hat. Befeuert durch Faktoren wie Stress oder auch Streit mit Mitfahrenden, führt der meist plötzlich aufkommende Ärger zu riskanten Manövern und teils sogar bewusster Provokation anderer Verkehrsteilnehmer:innen. Dass solches Verhalten auf der Straße stattfindet, ist wenig verwunderlich. Stress, Zeitnot, Ablenkung – all das passiert im Auto oder auf dem Rad genauso wie daheim und beeinflusst Aufmerksamkeit und Reaktionsvermögen. Und: Die psychologische Schwelle zu riskantem Verhalten sinkt, je sicherer man sich wähnt. Paradoxerweise führt das bei routinierten Fahrer:innen oft zu besonders folgenschweren Fehlern.
Zauberwort Empathie
Menschliche Schwächen wie Ungeduld, Aggressivität, Angst und Überforderung erzeugen gefährliche Situationen. Wenn eine Situation im Straßenverkehr eskaliert, fehlt vorher fast immer die Empathie – also das Verständnis, dass jeder Verkehrsteilnehmer verletzlich und auf gegenseitige Rücksicht angewiesen ist.
"Eindrücke von außen, unsere Erfahrungen und die aktuelle Laune werden miteinander verknüpft. Dieser sehr kurzfristig entstandene Cocktail bestimmt, wie kooperativ wir uns im Straßenverkehr verhalten", sagt Verkehrspsychologin Seidenberger und empfiehlt einen bewussten Perspektivenwechsel (siehe Interview), indem man sich in die Rolle des vermeintlichen Kontrahenten "hineindenkt".
Die sinkenden Zahlen tödlicher Unfälle zeigen, dass es auch in Österreich vorangeht. Es bleibt aber die Grundfrage: Wie gelingt einer Gesellschaft von Millionen Verkehrsteilnehmern ein achtsames Miteinander?
Denn umfassende Sicherheit im Straßenverkehr kann nicht allein durch gesetzliches Regelwerk und fortschreitende Technik entstehen. Es braucht gegenseitigen Respekt, Aufmerksamkeit und Mitgefühl – im besten Sinne einer Schwarm-Intelligenz. Schließlich ist die Straße ein gemeinsamer Lebensraum.
Tipps: Was kann ich selbst tun?
Das Wichtigste zuerst: Gelassenheit beginnt schon vor dem Einsteigen ins Auto. Mit einem entspannten Start und guter Planung lassen sich Stressfaktoren reduzieren. Es hilft etwa, Zeitpuffer für die Fahrt und Termine einzuplanen, damit Staus nicht zu Stress führen. Wenn möglich, sollte man außerhalb der Stoßzeiten fahren. Das Handy gehört in den Flugmodus, Gespräche sind während der Fahrt zu vermeiden. Empfehlenswert ist auch eine defensive und vorausschauende Fahrweise mit genügend Abstand. Aggressives Verhalten sollte unterlassen werden – auf Provokationen nicht eingehen, keinen Augenkontakt suchen, keine Gesten zeigen, keine Diskussionen beginnen und schon gar nicht an Ampelrennen teilnehmen. Auch das "Vogelzeigen" ist strafbar.
Die Sicherheit geht immer vor: Nie aus Ärger mit riskanten Fahrmanövern reagieren oder das Verhalten des Regelbrechers nachahmen. Bei Bedrohung oder Nötigung: Polizei kontaktieren, Kennzeichen fotografieren, nicht stehen bleiben bzw. aussteigen.
Geheimrezept?
Im Grunde funktioniert ein gutes Zusammenleben auf der Straße so, wie es die Briten vormachen. Dort bedankt man sich etwa auf engen, einspurigen Landstraßen per freundlichem Handzeichen beim Entgegenkommenden selbst dann, wenn man eigentlich Vorrang hätte. Beide sind danach happy und gehen ihres Wegs.
Warum nehmen wir uns dieses Verhalten nicht einfach zum Vorbild?
Experteninterview zum Thema Perspektivenwechsel
Sind wirklich immer die anderen schuld? Oder könnte es auch einfach daran liegen, dass es uns schwerfällt, den Blickwinkel zu wechseln? Die ÖAMTC-Expertin erklärt das Dilemma.
Warum kommt es im Straßenverkehr oft zu Konflikten zwischen Teilnehmenden?
Konflikte entstehen, wenn die eigenen Mobilitätsbedürfnisse eingeschränkt werden, etwa durch andere Verkehrsteilnehmende, die das eigene Fortkommen behindern. Jeder möchte rasch und sicher ans Ziel kommen, sodass Rücksichtnahme oft eine Herausforderung darstellt.
Was macht den Perspektivenwechsel für einen selbst so schwierig?
Die rasche Abfolge von sich ändernden Verkehrssituationen, die Anonymität und dazu die mangelnde Kommunikation zwischen den Beteiligten erschweren es, den Blickwinkel zu wechseln. Oft fehlt die Zeit oder Gelegenheit, über die Sichtweise des anderen nachzudenken.
Welche Probleme entstehen, wenn es nicht gelingt, die Perspektive zu wechseln?
Wer nur die eigene Sicht zulässt, fördert Missverständnisse und Stress. Das führt zu mangelnder Rücksichtnahme, Ärger und sogar gefährlichem Verhalten. Erfahrungen und Vorurteile gegenüber bestimmten Gruppen (z.B. Scooter-, Rad-, Motorradfahrende) verstärken dieses Problem und stehen einem Wechsel des Blickwinkels im Weg.
Wie kann mehr gegenseitiges Verständnis im Straßenverkehr entstehen?
Gegenseitiger Respekt, achtsames Verhalten und das bewusste Hinterfragen eigener Vorurteile sind entscheidende Schritte. Fragen wie "Würde ich mir selbst so begegnen, wie ich jetzt meinem Gegenüber begegne?" helfen, die eigene Sichtweise zu öffnen und Empathie zu fördern.
Was können Menschen konkret tun, um den Perspektivenwechsel zu verbessern?
Reflexion des eigenen Verhaltens, Geduld, Respekt und Regelkenntnisse sind wichtig. Generell gilt: aufmerksam und konzentriert sein. Wer vorausschauend, rücksichtsvoll und nachvollziehbar handelt, trägt zum Kreislauf der Achtsamkeit bei.
Das eigene Fahrzeug sicher beherrschen
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Die ÖAMTC Fahrtechnik bietet ein breites Portfolio an: von allgemeinen Fahrtrainings für diverse Fahrzeuge bis hin zu hoch spezialisierten Kursen.
L17 Praxistraining: Ein Training für Führerscheinanwärter:innen und ihre Begleitpersonen, um auf die Herausforderungen des Straßenverkehrs optimal vorbereitet zu sein.
Fahrsicherheitstraining für Pkw und Motorrad: Das für Führerschein-Neulinge verpflichtende Training dauert einen Tag und trainiert richtiges Fahrverhalten in kritischen Situationen.
Intensiv Training Pkw: Geübt wird der sichere Umgang mit dem Fahrzeug in Gefahrensituationen und der Einsatz aktueller Fahrerassistenzsysteme.
Aktiv Training Motorrad: Das Programm hilft, die Reaktionen in gefährlichen Situationen zu verbessern, insbesondere durch Kurventraining, Blickführung, Notbremsungen und Ausweichmanöver.
Snow & Fun: Spezielles Wintertraining in einer Eisarena, bei dem die eigene Fahrtechnik auf Schnee, Eis und Asphalt praxisnah geschult wird.
Mobil sein – Mobil bleiben: Fahrsicherheitstraining für ältere Personen ab 60 Jahren, das die Mobilität und Verkehrssicherheit im Alter unterstützt.
Weitere Trainings, Preise und Buchung unter www.oeamtc.at/fahrtechnik