Marsch in die Arbeit

"Meine Seele geht zu Fuß", sagt der Berufspendler Walter Rohrmanstorfer. Getreu dieser Devise wandert er zweimal pro Woche zwei Stunden in die Arbeit nach Linz.

Es ist stockdunkel, als Walter Rohrmanstorfer an diesem Montag kurz nach halb sechs Uhr früh die Tür seines Hauses in der Nähe von Gallneukirchen öffnet. Auf der nahen Mühlkreisautobahn A7 rauschen auch schon zu dieser nachtschlafenen Zeit bereits zahlreiche Autos Richtung Linz: Wer dem alltäglichen Stau auf dieser Pendlerroute in die Landeshauptstadt ausweichen will, muss sehr, sehr zeitig aufstehen und losfahren. 

Doch der 52-jährige Psychotherapeut und verheiratete Vater von zwei Kindern hat selbst nicht vor, in ein Auto zu steigen und sich der Dauerkolonne anzuschließen. Vielmehr startet er zu seinen "zwei bis drei Stunden, die er ganz für sich alleine hat", wie er sagt. Rohrmanstorfer geht zweimal pro Woche fast genau zwei Stunden von seinem Haus bis zur Endstation der Straßenbahn 1 bei der Universität zu Fuß. An einem dieser Tage hat ihn der Redakteur des auto touring begleitet.

"Es ist immer wieder ein ganz besonderes Gefühl, in den erwachenden Tag hineinzugehen", sagt Rohrmanstorfer, als wir bei doch recht frostigen Temperaturen losmarschieren. Marschieren ist das richtige Wort, denn der notorische Zu-Fuß-Geher Walter legt ungeachtet der frühen Stunde gleich auf den ersten paar hundert Metern ein flottes Tempo vor, was dem Reporter, der sich eher ein gemächliches Losspazieren erwartet hat, doch einige Schwierigkeiten bereitet. 
 

Schon nach zehn Minuten haben sich "Wandersmann" und Reporter auf eine gemeinsame Geschwindigkeit geeinigt, dennoch kommen wir recht flott voran. Zwar beginnt es nun schon zu dämmern, doch als wir auf die Trasse der ehemaligen Pferdeeisenbahn zwischen Linz und Budweis einbiegen, zahlt es sich aus, dass Walter in weiser Voraussicht eine Stirnlampe mitgenommen hat, die den hier doch recht holprigen Weg ausleuchtet. 

Immer wieder kommen wir jetzt an Wohnhäusern vorbei, aus denen schlaftrunkene Menschen taumeln, die nur wenige Schritte zu ihrem Auto benötigen, um sich einige Minuten später in die große Kolonne nach Linz einzuordnen. An vielen Tagen des Jahres mündet diese in einen gigantischen Stau, dessen Ursachen Politik und Wirtshaustische seit Jahren beschäftigen. Dass man ihm ausweichen könnte, indem man täglich einen gesunden Zwei-Stunden-Spaziergang macht: Auf diese Idee ist freilich noch kaum jemand gekommen. 

Doch Walter geht jegliches Sendungsbewusstsein ab. Er genießt einfach den Morgen, während der Himmel über uns langsam von Grau in Hellrosa wechselt. Eben noch hat er seine Warnweste getragen, die ihn auf den schmalen Landstraßen zwischen den Wegabschnitten vor den Unaufmerksamkeiten morgenmüder Autolenker schützen soll. 

Jetzt kann er sie aber wieder in die kleine Tasche packen: Denn erstens sind wir nun wieder auf einem schönen Wanderweg. Und zweitens ist die Sonne aufgegangen, Flugzeuge über dem Linzer Himmel werden von ihr erleuchtet. Ein richtig kitschiger Sonnenaufgang bleibt uns an diesem Tag zwar leider verwehrt, doch stolz zeigt Walter Handybilder von den schönsten dieser Momente, die er auf dieser Route erleben durfte.

Schon seit 2013 ist er hier zweimal pro Woche unterwegs. Am Anfang, so erzählt er, sei es gar nicht so einfach gewesen, die richtige und beste Route zu finden. Mittlerweile trifft er sich unterwegs meist mit einem Gleichgesinnten. Ob sie einander dabei eher anschweigen oder lieber Tagesaktualitäten besprechen? "Das ist unterschiedlich", sagt Walter. Doch dem Reporter wird langsam klar: Walter ist Psychotherapeut. Er sitzt während seiner Arbeit. Und er hört ständig zu. Welchen besseren Ausgleich könnte es geben, als zwei Stunden alleine durch eine morgendliche Landschaft zu wandern? Schwer vorstellbar, dass etwa für 
einen Bauarbeiter ein ähnlicher Pendlerweg praktikabel und möglich wäre. 
Auf seinem Arbeitsweg nach Linz hat Walter schon Füchse gesehen, ein frisch geschlüpftes Rehkitz ist ihm auch schon vor die Füße gestolpert. Unser heutiges Abenteuer besteht aus einem Schaf, das sich in einem Maschendrahtzaun ver­fangen hat. Da können wir leider nicht 
helfen, aber wir sagen dem Bauern Bescheid, den wir kurz darauf treffen.

Gegen halb acht Uhr sehen und ­hören wir dann die Mühlkreisautobahn. An diesem Montag sind Osterferien, daher bleibt der Stau ausnahmsweise aus. Auch die Kolonne auf der Landesstraße, die wir nun einige wenige Meter entlang gehen müssen, ist nicht so dicht. Wenig später gehen wir die letzten Meter bis zur Endstation der Straßenbahnlinie 1. 

"Kannst du den Kaffee schon riechen?", fragt Walter munter.

In einer kleinen Bäckerei an der Haltestelle der Straßenbahn belohnt sich Walter mit Kaffee und Mohnkipferl, auch das gehört zu seinem Ritual. Auf seinem Smartphone ist unser Weg auf­gezeichnet: Für die elf Kilometer haben wir zwei Stunden und 21 Minuten benötigt. Hochgerechnet aufs Jahr sind das für Walter 800 Kilometer Fußweg, die er sonst in Auto oder Bus verbringen würde: "Ich will langsam in die Arbeit kommen. Und nicht schnell. Denn Gehen ist die sinnlichste Art, sich fortzu­bewegen." Nach Hause fährt er dann spätabends mit dem Bus.