Lebensretter Impflogistik

Bis Mitte April wurden 2,5 Millionen Impfdosen an Tausende Impfstellen in Österreich verteilt. Der Weg von der Produktion bis zum Stich in den Oberarm ist weit und nicht ohne Hürden.

Im Frühling des Vorjahres wurde allen Beteiligten klar: Da kommt etwas Großes auf uns zu. Während die dramatischen Entwicklungen rund um Covid-19 einen ersten traurigen Höhepunkt erreichten, beschäftigten sich viele Köpfe mit der Suche nach einem wirksamen Gegenmittel gegen das neue Virus – und der weltweiten Transportlogistik.

"Im Sommer waren noch 250 mögliche Impfstoffkandidaten im Spiel", erinnert sich Generalmajor Andreas Pernsteiner, Gruppenleiter Logistik im Bundesministerium für Landesverteidigung (BMLV) und seit Herbst offiziell von der Regierung mit der Koordination der Impfstrategie beauftragt.

Die Logistik für ganz Österreich orchestriert ein Dreierteam im BMLV gemeinsam mit der Leitung von fünf österreichischen Pharma-Großhändlern, der Bundesbeschaffungsgesellschaft (BBG) und den Impfkoordinatoren der Bundesländer. Außerdem informiert eine Kontaktstelle im Gesundheitsministerium über erfolgreiche Bestellungen bei den großen Pharmakonzernen und der EU-Koordinationsstelle.

Wir sind die Stimme, die das Logistiknetz in Österreich zusammenhält.

Andreas Pernsteiner, Hauptkoordinator Covid-19-Impflogistik im BMLV

Weltweite Impflogistik

Klingt schon kompliziert. Dabei stellt man sich das Ganze recht einfach vor: Impfstoff wird produziert, abgefüllt und mit Flugzeugen und Lastwagen an die Zielländer geliefert. In Österreich bringen die Hersteller ihre Ware in die 17 Lagerstätten von fünf Pharma-Großhändlern. Das sind aktuell BioNTech/Pfizer, Moderna, ebenso AstraZeneca und, laut Pernsteiner, möglicherweise bald Curevac von Novartis, das wahrscheinlich in Tirol produziert werden wird.

Ab hier übernehmen das BMLV die Koordination und die Großhändler die Umsetzung.

Es sei eine große Aufgabe, bestätigt Dominique Nadelhofer, Sprecher des Logistikkonzerns Kühne + Nagel. Das Szenario: In den nächsten ein bis zwei Jahren werden weltweit zwischen 11 und 15 Milliarden Impfdosen benötigt, mit welchen eine Herdenimmunität von rund 70 Prozent erreicht werden soll. Hinzu kommen möglicherweise neue Impfstoffe für Mutationen. "Das ist eine Aufgabe für sehr viele Beteiligte", erklärt Nadelhofer.

Aus logistischer Sicht werden dann rund 60 Prozent der Impfstoffe per Luftfracht und 30 Prozent auf dem Landweg transportiert. Ein Transport zur See ist aufgrund der Dauer ausgeschlossen, allerdings werden Milliarden Spritzen und Kanülen auf dem Seeweg ge­liefert.

Theoretisch würden diese 11 bis 15 Milliarden Impfdosen zusammen in nicht mehr als 1.000 große Frachtflieger des Typs Boeing 747 passen. Doch so einfach ist es nicht, denn die verfügbaren Mengen, deren Bedarf und die Zielorte variieren erheblich.

Vom Rohstoff zur Produktion

Die Logistikkett beginnt viel früher: "Zuerst müssen Rohstoffe zur Produktionsstätte gebracht werden", so Nadelhofer. Er beschreibt den Prozess für den Impfstoff Moderna, denn hier ist Kühne + Nagel für die gesamte Logistik außerhalb der USA zuständig.

Das amerikanische Unternehmen Moderna hat seine einzige europäische Produktionsstätte im Chemiewerk Lonza im Schweizer Wallis. Rund eine Milliarde Dosen sollen dort heuer noch produziert werden. Die Flüssigkeit wird in 20 Liter große Behälter verpackt und mit dem Lkw nach Spanien gebracht. Dort wird sie in Vials, spezielle Glasfläschchen, abgefüllt. Bei Moderna sind bis zu elf Dosen in einem Fläschchen, bei BioNTech/Pfizer sind es sechs bis sieben.

Von hier führt der Weg zurück in den Norden, in das zentrale Lager von Kühne + Nagel in Benelux. In Puurs in Bel­gien ist auch der europäische Hauptproduktions­standort von BioNTech/Pfizers Covid-19-Impfstoff. "Von dort geht es via Luftfracht nach Singapur oder Israel oder auf dem Landweg nach Deutschland, Frankreich, in die Schweiz und in die Zentrallager in Österreich", detailliert Nadelhofer.

In Österreich übernehmen die Pharma­-Großhändler die sogenannte letzte Meile. "Die Aufbewahrung erfolgt vor der letzten Wegstrecke temperaturkontrolliert in speziellen Kühlschränken. Bei BioNTech/Pfizer sind minus 70 Grad Celsius einzuhalten, bei Moderna minus 20 Grad, bei AstraZeneca normale Kühlschranktemperatur", erklärt Andreas Windischbauer, Vorstandsvorsitzender von Herba Chemosan und Vorsitzender des Verbands der österreichischen Arzneimittelgroßhändler PHAGO.

So wird der Impfstoff von BioNTech/Pfizer in tiefgefrorenen Trays mit je 195 Glasfläschchen geliefert. Diese Trays sind nicht größer als eine Pizzabox und dürfen vor der Verimpfung nicht aufgebrochen werden.

"Die Impfstoff-Vials müssen aufrecht und in qualifizierten Kühlboxen transportiert werden und sind durch eine spezielle Verpackung vor Erschütterungen geschützt", ergänzt PHAGO-Generalsekretärin Monika Vögele.

Mehr als 500 Fahrzeuge seien täglich im Einsatz, um die sensiblen Covid-Vakzine in der richtigen Menge und zur richtigen Zeit an ihren Bestimmungsort zu bringen, so Vögele. Meist weiße Kastenwagen, die mit ausgebildetem Personal unterwegs sind. Eine Erleichterung ist, dass das normale Geschäft heuer deutlich schwächer ausfällt: "Social Distancing brachte für Grippe- und Erkältungs­pharmaka ein Minus von 80 Prozent", sagt Windischbauer.

Für die Bestellungen sind die neun Impfkoordinatoren der Länder zuständig. Wenn klar ist, welche Lieferungen von welchen Herstellern kommen, werden diese Informationen im E-Shop der BBG eingespielt und von den Impfkoordinatoren der Länder rund drei Tage vor der gewünschten Anlieferung bestellt.

"So gehen die Lieferungen, die auch Spritzen, Nadeln, Aufklärungsbögen und Impfkärtchen beinhalten, an Tausende Adressen – darunter Impfstellen wie das Austria Center Vienna, Krankenhäuser, Alten- und Pflegeheime, Ordinationen und Apotheken", erklärt Windischbauer.

Die Komplexität und der Umfang der Logistik­prozesse erklärt, warum sich Vertreter aller beteiligter Stellen, das sind 10 bis 20 Menschen, zum täglichen virtuellen Jour fixe um neun Uhr morgens einfinden, um das Impfmanagement in Österreich zu besprechen. Kurzfristig und schnell reagieren steht an der Tagesordnung. Zu dem Zeitpunkt, als im Vorjahr erste Verträge abgeschlossen wurden, waren manche Impfstoffe noch nicht am Markt zugelassen.

Rund 2,5 Millionen Impfdosen befanden sich mit Stand Mitte April in Österreich. Davon werden täglich rund 70.000 verimpft. Sie bringen nach wenigen Tagen im Land tröpfchenweise Erleichterung für die Corona-geplagte Bevölkerung. 

Wir liefern Covid-Vakzine von 17 Nieder­lassungen an Tausende Adressen im Land.

Andreas Windischbauer, CEO Herba Chemosan, Verbandsvorsitzender PHAGO

Hunderte Millionen Glasfläschchen

Die verschiedenen Covid-19-Impfstoffe bestehen, je nach Hersteller, aus mRNA oder einem Spike-Protein und inaktiven Stoffen wie Aminosäuren, Stabilisatoren, Alkohol, Zucker, Salz und Wasser. Doch wie wird diese Flüssigkeit verpackt? Sie wird in sogenannten Vials oder Glasfläschchen abgefüllt. In nahezu allen Fällen wird dafür Borosilicatglas verwendet, wie es der Mainzer Technologiekonzern Schott Glas herstellt.

"Das Material ist der Goldstandard der Medikamentenverpackung und chemisch nahezu inert, das heißt undurchlässig. Es vermeidet jegliche Wechselwirkung zwischen Verpackung und Impfstoff und erhält so die Wirksamkeit. Außerdem ist das Glas temperaturstabil zwischen minus 200 und plus 500 Grad Celsius", erklärt Unternehmenssprecher Salvatore Ruggiero. Die Standardfläschchen von 2 bis 10 Milliliter werden von Schott Glas millionenfach produziert, aktuell für rund 90 Prozent der aktuell zugelassenen Covid-19-Impfstoffe. 

"Bis Ende des Jahres werden wir Fläschchen für rund zwei Milliarden Impfdosen ausgeliefert haben", so Ruggiero. Schott produziert auch die Behälter für die Fläschchen. Die Etiketten und Verschlüsse liefern andere Hersteller. Ein weiterer Schritt in der Lieferkette, der logistisch bewältigt werden muss.

Die perfekte Kühlung

Die Technologie wurde für extreme Bedingungen in der Raumfahrt entwickelt. Nun sind die "phase change materials" insbesondere für den heiklen Impfstoff von BioNTech/Pfizer für Langstreckentransporte in Einsatz. Das Besondere: Sie können ihren Aggregatzustand von fest zu flüssig und retour verändern. So stellt die deutsche Firma Va-Q-Tec Temperaturisolationslösungen, in kleinen bis mächtigen Containern verbaut, für den Transport von Covid-19-Impfstoffen zur Verfügung.

In einem Container haben bis zu 50.000 Impfdosen Platz. "Es ist ein System, das man sich ähnlich einer riesigen Thermoskanne vorstellen kann", informiert Diplom-Physiker und Va-Q-Tec-CEO Joachim Kuhn.

Es sei die bestmögliche Dämmung mit sogenannten Vakuumisolationspaneelen, die Temperaturen zwischen –60 und +25 Grad zwischen fünf und zehn Tagen konstant halten können. Aktuell werde mit dem Zentrum für angewandte Energieforschung an Speicherelementen von bis zu minus 80 Grad geforscht, um die Trockeneisproblematik zu lösen. Dieses musste punktuell in der Covid-Impflogistik genutzt werden. Es besteht aus gepresstem Kohlenstoff, der sich vom festen zum gasförmigen Zustand wandelt, wenn er schmilzt. Der Dampf besteht aus Kohlendioxid und kann beim Einatmen in hoher Konzentration tödlich sein – eine Gefahr in schlecht gelüfteten Räumen.

Die konditionierten Boxen, liebevoll Va-Q-VIPs genannt, werden zu den Impfstofflagern transportiert und dort direkt aus dem Gefriergerät befüllt. "Man muss vor der Impflogistik Respekt haben. Die Erhaltung der Kühlkette ist ein Muss", ergänzt Kuhn. Das Unternehmen kommt aus der Forschung und ist schon 2000 in den Thermomarkt eingetreten.

Ein Hauptfokus liegt auf der Baubranche – es geht um die herausfordernde Dämmung in älteren, oft denkmalgeschützten Gebäuden oder auch die Dämmung bei Industrie-Wasserleitungen. "Aber jeder, der zu Hause einen hocheffizienten Kühlschrank hat, hat sehr wahrscheinlich unsere Technologie eingebaut. Witziges Detail: Auch manch Außergewöhnliches wurde mit Va-Q-Tec-Containern benutzt – von wertvollen wärmeempfindlichen Gemälden bis zu empfindlichen Optiken und wertvollen Fleischprodukten."