Weihnacht auf der Beatle-Insel

Am 24. Dezember kann man zu Hause bleiben. Oder die einsamsten Inseln der Welt jenseits von Gut und Böse besuchen. Willkommen auf Tristan da Cunha und Nightingale!

An diesem Weihnachtstag hat sich eine graue Kappe über den Vulkan gelegt. Der Ozean rund um die Insel gibt sich für die in diesen südlichen Breitengraden üblichen stürmischen Verhältnissen erstaunlich zahm. 2.800 Kilometer von der nächsten Ansiedlung entfernt, haben sich in der Marienkirche des 266-Seelen-Dorfes Edinburgh of the Seven Seas Menschen unterschiedlichster Herkunft versammelt, um das große Fest gemeinsam zu feiern. "O du Fröhliche" wird in deutscher Sprache angestimmt, dann in Englisch "O Come All Ye Faithful". Ein Laienprediger – Priester gibt es hier nicht – heißt die Gäste willkommen, die an diesem außergewöhnlichen Tag über den Südatlantik gekommen sind, und spricht einen einfachen Reisesegen.

Tristan da Cunha, der Schauplatz dieser Ereignisse, ist ein Ort wie kein anderer. Besuch aus der Außenwelt ist auf der einsamsten Insel der Welt, die zwischen Südafrika und Südamerika mitten in einem scheinbar endlosen Ozean liegt, eine Seltenheit: Nur alle paar Wochen läuft ein Versorgungsschiff nach einer mehrtägigen Reise vom fernen Kapstadt die einsame Insel an, um das Notwendigste zu bringen. Auf Tristan gibt es keinen Flugplatz. Wer ernsthaft krank wird, muss auf die Künste des einzigen Arztes in der kleinen Sanitätsstation nahe der Kirche bauen oder gleich auf Gottes Hilfe hoffen.

In der Mitte von Nirgendwo

Leben im Schatten des großen Vulkans

Sogar die Entdeckung des Eilandes verdankte sich einem Zufall. Auf seinem Seeweg in Richtung Kap der Guten Hoffnung und weiter nach Indien war der portugiesische Admiral Tristão da Cunha 1506 weit nach Westen in den Atlantik hinaus abgetrieben worden und auf die Vulkaninsel gestoßen.

Später kamen Walfänger und Abenteurer, die Briten annektierten Tristan 1816 und errichteten eine Garnison, um die Befreiung des auf Sankt Helena internierten Napoleon Bonaparte zu verhindern. Nach ihrem Abzug blieb der schottische Korporal William Glass mit seiner Familie zurück – der Beginn einer dauerhaften Besiedlung. Die Bewohner führen ihre Abstammung auf nur sieben Familien zurück. Das Grab von Glass kann man noch heute auf dem Friedhof der Insel, der auf einem mit Gras bewachsenen Abhang mit Ausblick zum Ozean liegt, besuchen.  

Die Bevölkerung wuchs nur langsam. Die Fertigstellung des Suezkanals, die den Seeweg durch den Atlantik nach Indien überflüssig machte, steigerte die Isolation sogar noch. Auch der Rückgang des Walfanges führte dazu, dass immer weniger Menschen auf Tristan lebten. 1857 etwa waren es nur noch 23, nachdem etliche Insulaner eine Chance nutzten, mit einem Schiff nach Südafrika überzusetzen. 






Wind und Wellen werden dafür sorgen, dass Tristan da Cunha eines Tages wieder im Ozean versinkt.






Ha-Jo Spitzenberger, Expeditionsleiter der MS Bremen


Einen Meilenstein bildete 1867 der Besuch des britischen Dampfers "Galatea" mit Prinz Alfred an Bord, dem damaligen Herzog von Edinburgh, der auf einer Weltreise Station machte. Ihm verdankt der einzige Ort Tristans, Edinburgh of the Seven Seas, seinen etwas hochtrabenden Namen. 

Während der Erste Weltkrieg nur wenige Veränderungen brachte, wurde im Zweiten Weltkrieg die Infrastruktur vom britischen Militär stark ausgebaut: Funkstation, Schule, Krankenhaus und ein Geschäft wurden gebaut. 

Der über 2.000 Meter hohe Vulkan der 98 Quadratkilometer großen Insel hatte sich in allen diesen Jahrhunderten ruhig verhalten. Tristan liegt jedoch auf einem Hotspot des Atlantischen Rückens. Auf Unterwasserkarten ist deutlich zu sehen, dass sich unter dem Südatlantik ein Gebirgszug in Richtung Angola zieht, der seine Entstehung während des Auseinanderdriftens von Südamerika und Afrika ebenfalls diesem Hotspot verdankt. Forscher sagen deshalb auch voraus, dass Wind und Erosion dazu führen werden, dass Tristan irgendwann wieder in den Fluten des Ozeans versinken wird. 

Im Oktober 1961 kam es nach mehreren Erdbeben zu einem Ausbruch des Vulkans. Alle knapp 300 Bewohner wurden von zwei Schiffen zuerst auf die Nachbarinsel Nightingale, dann nach Kapstadt und schließlich in den kleinen Ort Calshot bei Southampton in England evakuiert. Die Britische Regierung ging davon aus, dass damit das Kapitel einer menschlichen Besiedelung Tristan da Cunhas endgültig erledigt war.

Doch 1962 stellte eine Expedition der Royal Society fest, dass die Insel wieder bewohnbar war. Gegen den Willen der Regierung entschieden sich in einer Volksabstimmung 148 "Tristaner" für die Rückkehr in den Südatlantik, nur fünf votierten dagegen. Seit dem British Overseas Act 2002 besitzen alle Bürger Tristan da Cunhas auch die volle Staatsbürgerschaft Großbritanniens. 

Sie wählten freiwillig ein Leben, das inmitten eines wilden Ozeans mit dem Fangen von Langusten, dem Anbau von Kartoffeln und dem Halten von Kühen ausgefüllt ist: pro Familie sind zwei erlaubt, für Singles nur eine einzige.

Ein Weihnachtstag auf Tristan da Cunha

Ein freundlicher Empfang und ein unnötiger Stadtplan

In vielen Häfen der Welt ist die Ankunft eines Kreuzfahrtschiffes Alltag. Doch an diesem Weihnachtstag ist der Besuch des Expeditionsschiffes MS Bremen, das über Tristan da Cunha auf dem Weg nach Südgeorgien und in die Antarktis ist, willkommene Abwechslung. 

Als erster ist Expeditionsleiter "Ha-Jo" Spitzenberger in eines der großen Schlauchboote ("Zodiacs") gestiegen, um die Anlandungsbedingungen zu erkunden. Einiges ist über die Insel bekannt, zuletzt war die Bremen hier 2010 zu Besuch. Der Biologe kehrt bald mit Alex Mitham zurück an Bord: er ist derzeit der Administrator Tristans, also der Stellvertreter des Gouverneurs, der in Jamestown auf der Insel St. Helena residiert. Der Ozean ist zahm genug: Die Passagiere können in die Zodiacs, rasch wird das Schiff freigegeben.

Schon kurz nach halb neun Uhr erreichen wir die kleine Anlegestelle von Edinburg of the Seven Seas – von einem Hafen zu sprechen wäre wohl übertrieben. Die Passagiere teilen sich in drei Gruppen auf: "Vulkanwanderer", "Küstenläufer" und "Siedlungs-Rundgänger". Es hat angenehme Temperaturen, der sommerlichen Jahreszeit angemessen. Tristan da Cunha liegt in gemäßigten südlichen Breiten.






Es wäre schön, wenn die Hunde-Eigentümer ihre Tiere heute unter Kontrolle halten könnten, während wir Gäste an Land haben.






Hinweis im Souvenir-Shop, Tristan da Cunha


Ich habe mich für die dritte Gruppe entschieden, erkunde Edinburgh of the Seven Seas. Dawn, die für den Tourismus verantwortliche Dame, versorgt mich mit einem Stadtplan. Aber man kann sich in den wenigen Straßen zwischen den kleinen Häusern nicht wirklich verirren. Ich spaziere hinüber zur blumengeschmückten Residenz des Administrators, zur 1975 errichteten Schule, dem 1991 erbauten Krankenhaus und zur Gemeindehalle, der Prince Philip Hall, die 1957 höchstpersönlich vom Duke of Edinburgh eingeweiht wurde. Es gibt auch ein kleines Café, in dem den Spaziergängern Sandwiches, Kuchen und Kaffee angeboten werden. In einem Haus nebenan kaufe ich eine handgemachte Stoffpuppe eines Tristan-Felsenpinguins, die für ihre witzigen langen Kopffedern berühmt sind und ihnen den Spitznamen "Beatle" eingebracht haben. 

Etwas außerhalb des Ortes warten auf mich einige Herren, die mir das kleine Museum ("Tristan Cottage") zeigen wollen. Sehr gesprächig ist man auch hier nicht, aber gerne posieren einige Herren auf einem Erinnerungsfoto. Ich erfahre, dass eine Funkstation mittels moderner Satellitenkommunikation die Insel mit dem Rest der Welt verbindet, dass im Moment 262 Menschen hier leben und zwei weitere gerade "overseas" unterwegs sind.

Versorgt werden die Insulaner etwa alle zwei bis drei Monate per Schiff von Kapstadt aus. Der kleine Supermarkt ist dementsprechend mit südafrikanischen Produkten bestückt. Ein kleines Schild ermahnt die Einheimischen: "Es wäre schön, wenn die Hunde-Eigentümer ihre Tiere heute unter Kontrolle halten könnten, während wir Gäste an Land haben." Aufgefallen ist mir freilich etwas anderes: Sogar die Hunde sehen einander hier alle ähnlich. 

Später fahre ich auf der Ladefläche des Traktor-Anhängers hinüber zur Kirche. Dann erklingen die Weihnachtslieder in der Saint Mary's Church. Und es scheint, als würde sich eine Brücken des Friedens über die Kontinente spannen und alle Menschen an einem der einsamsten Plätze der Welt für einen kurzen, wertvollen Moment zusammenführen – ein tröstlicher Gedanke.

Naturparadies Nightingale Island

Der aufregende Tag ist damit aber noch nicht zu Ende. Kaum zurück an Bord erfahren die Passagiere von Kapitän Roman Obrist, dass sich das Wetter am Nachmittag entgegen aller Vorhersagen nicht verschlechtern, sondern eher verbessern wird. Wir haben daher einheimische Führer an Bord genommen und werden auch der 26 Seemeilen entfernten Nachbarinsel Nightingale einen Besuch abstatten – der Name hat nichts mit "Nachtigallen" zu tun, sondern bezieht sich auf einen britischen Kapitän aus dem 18. Jahrhundert: Gamaliel Nightingale.

Die Überfahrt bei herrlichem Sonnenschein und – in diesen Breiten die absolute Ausnahme – praktisch Windstille dauert nur zwei Stunden. Expeditionsteam und Einheimische erkunden gemeinsam in einem Zodiac die mögliche Anlandungsstelle, die mitten in einer Kolonie von Felsenpinguinen und subantarktischen Seebären liegt. Der Bootsmann steuert das Gefährt an ein abschüssiges Felsplateau heran, wir springen auf die Insel. Damit haben Felsenpinguine und Seebären natürlich keine Freude, die Aufregung über den unangemeldeten Besuch ist beträchtlich.

Was könnte besseres passieren: Die Sonne knallt an diesem Nachmittag unbarmherzig heiß auf Nightingale herunter. Doch sie macht auch meinen Marsch auf einem schmalen Weg durch mannshohes, schneidendes Tussockgras anstrengend und schweißtreibend. Überall brüten Pinguine. Raubmöwen haben unter jungen Walvögeln ein regelrechtes Massaker angerichtet, lauern abseits des Weges auf weitere Beute. Ich steige mit den anderen Passagieren auf bis zu einem Nest mit einem jungen Gelbnasen-Albatros, dem wir unerlaubterweise viel zu nahe kommen. Diese kleinen Vögel, die später zu den eleganten Herrschern der Lüfte über dem Ozean heranwachsen, können als Abwehr einen stinkenden Schleim bis zu zwei Meter weit zielgenau ausspucken. Das Tier verhält sich ruhig, Kameras klicken. Der Ausblick von hier oben auf die Insel ist phantastisch. 

Hier müssen wir umkehren, da die Zeit zu knapp ist. Auf dem Weg zurück zur Landungsstelle begegnen wir immer wieder Pinguinkolonien. Die Tiere drängen sich fotogen aneinander, im Hintergrund der tiefblaue Atlantik und unser Schiff. An der Anlegestelle liefern einander Seebärenbullen lautstarke Duelle. Ihr Gebrüll liefert die Begleitmusik zur Zodiac-Parade, die mich zur Bremen zurück bringt. Wir müssen den Anker lichten, die Guides in Tristan abliefern und vier weitere Tage stürmischen Südatlantik hinter uns bringen, um die Königspinguine von Südgeorgien zu sehen. Aber das ist eine ganz andere Geschichte. 

Die gute Nachricht zum Schluss: Man muss nicht die halbe Welt umrunden, um sich einen Felspinguin anzuschauen. Der Tiergarten Wien züchtet als einer der wenigen auf der Welt in Schönbrunn erfolgreich diese Tierart, Fütterung ist täglich um 11 Uhr. Mehr Infos gibt es hier.