Versunkene Welten

Ein prachtvoller Fotoband zeigt, wie frühe Reisefotografen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundertes die Vielfalt der Erde erstmals in die bürgerlichen Wohnzimmer brachte.

Wer heute in die Google-Suche Begriffe wie "Stephansdom" oder "Riesenrad" eingibt, erhält als Ergebnisse unzählige Bilder. Es scheint geradezu das Wesen des Tourismus zu sein, möglichst zahlreiche Fotos zu "schießen" und das Sehenswerte effizient abzuhaken. 

Wenn man sich selbst zusammen mit der Sehenswürdigkeit abbildet, also ein sogenanntes Selfie macht, erzeugt das einen positiven Imagetransfer von dem berühmten Gebäude, Gemälde oder auch der exotischen Umgebung auf die eigene Person. 

Der Preis dafür ist jedoch hoch. An den berühmten Plätzen und Orten, zu denen wir mit viel Einsatz streben, müssen wir erkennen, dass wir zu spät sind. Denn andere waren vor uns da. "Die Fotografie hat sich unserer Erinnerung bemächtigt, lange bevor wir die Reise überhaupt angetreten haben. Und wir müssen uns eingestehen, dass uns damit die Fähigkeit des Staunens genommen wurde", schreibt Freddy Langer, einer der Autoren, im Vorwort zu dem Bildband  "Die Entdeckung der Welt – Frühe Reisefotografie von 1850 bis 1914", der im Prestel-Verlag erschienen ist. 

Ein romantisierender Blick

Massentourismus und Fotografie wurden fast gleichzeitig erfunden. 1839 konnte der Franzose Louis Jacques Mandé Daguerre erstmals einen "festen und dauerhaften Abdruck" eines Bildes herstellen. Nur zwei Jahre später veranstaltete der Tischler und Wanderprediger Thomas Cook eine organisierte Bahnreise von Leicester ins gut 15 Kilometer entfernte Loughborough, samt Musikbegleitung unterwegs sowie Tee und Sandwiches für die 570 Teilnehmer. 

Warum lohnt sich ein Blick auf auf alte Fotografien? "Sie könnten etwas vom Staunen und der Neugierde gegenüber der Fremde und dem Fremden vermitteln", meint Langer, seit 30 Jahren Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Hier sei das Exotische noch nicht seines Nimbus beraubt. 

Verzeihen sollte man den Pionieren freilich, dass sie bei allem Staunen über die fremden Welten, die sie mit ihren unhandlichen und schweren Ausrüstungen erkundeten, den kritischen Blick vergaßen und eine durch und durch romantische Sichtweise entwickelten.

Aber vielleicht ist es ja dieses unvoreingenommene, ja kindliche Staunen, das uns bei Reisen in Vor-Corona-Zeiten abhanden gekommen ist.

Der Reisefotograf ist weit entfernt von Objektivität. Jede Aufnahme ist von seinen persönlichen Erfahrungen geprägt, von seinem Blick auf das jeweilige Motiv.

Olivier Loiseaux, Herausgeber

Jede Krise ist ja auch eine Chance. Und so ist vielleicht auch der Blick auf die frühe Reisefotografie eine Möglichkeit, von vorne anzufangen und die Welt neu zu entdecken. Den frühen Fotografen selbst ging es ganz im Sinne des fortschrittsgläubigen 19. Jahrhunderts zunächst einmal um die Erweiterung des Wissenshorizonts.

Gleichzeitig unternahmen sie aber auch erstmals den Versuch, die Zeugnisse der Vergangenheit in Bildern zu bewahren.

Der Bogen der Fotoreportagen in dem mehr als 200 Seiten starken Band spannt sich von Afrika über beide Amerika und Europa bis nach Asien und Ozeanien. Auch ein österreichischer Baron ist unter den Entdeckern: 13 Jahre nach der Öffnung japanischer Häfen für Ausländer eröffnete Raimund von Stillfried-Ratenicz in Yokohama ein eigenes Atelier. Seine Porträts zeigen in einer rückwärts gewandten Pose das Japan zur Zeit der Abschottung von westlichem Einfluss und bedienen den Wunsch der Betrachter und Touristen nach exotischer Schönheit. 

Das Buch

Olivier Loiseaux, Gilles Fumey, Freddy Langer: Die Entdeckung der Welt. Frühe Reisefotografie von 1850 bis 1914. Hardcover, Pappband, 240 Seiten, 23,5 x 32,0 cm, mit 230 farbigen Abbildungen, € 46,30, ISBN 978-3-7913-8591-4.