Geheime Hauptstadt

Brüssel ist eine Stadt der Widersprüche. Glanzvoll und auch elend. Voller Ecken und Kanten. Multikulturell und authentisch wie keine andere.
 

Brüssel ist eine europäische Stadt, über die man zunächst kein eindeutiges Bild hat, anders als bei Paris oder London. Ja, man kennt den prachtvollen Grand Place, das Atomium und Manneken Pis, den kleinen in einen Brunnen pinkelnden Buben aus Bronze, der aktuell in ein Mäntelchen gehüllt ist. Schon weniger bekannt sind die außergewöhnlich schönen Jugendstilpaläste des Jahrhundertwende-Architekten Victor Horta oder die vielen künstlerisch bemalten Fassaden entlang der Comic Route.

Es gibt viele Puzzleteile, die doch kein Ganzes ergeben. Für die Liebe auf den ersten Blick fehlt die Makellosigkeit. Historische goldene Herrlichkeit trifft oft auf Stilbrüche und Kratzer. Es ist dann die charmante Ehrlichkeit, die zur Liebe auf den zweiten Blick verführt.

Aber eines wird schnell deutlich: Brüssel ist eine der internationalsten Städte Europas. Neben Französisch, Flämisch und dem Englisch der EU-Beamten werden mehr als 100 Sprachen gesprochen. Ob in der Metro oder beim Spazierengehen, die Sprachvielfalt hinterlässt Eindruck.

Absolut sehenswert

Reichtum und koloniale Ausbeutung

Heute hat die Hauptstadt Belgiens 1,2 Millionen Einwohner:innen und besteht aus 19 Städten (ähnlich Bezirken) mit eigenen Bürgermeister:innen. Am Weg durch die Innenstadt findet sich der Königspalast Egmont, die Église Notre-Dame, der Brüsseler Arc de Triomph.

Auffallend sind die Prunkbauten der Art Nouveau von Victor Horta. Sie verleihen dem Stadtbild Glanz und Glamour eines anderen Jahrhunderts. Hortas Schönheiten strahlen mit buntem Glas, verspielten Formen, vergoldetem Stahl und Eisenspielereien.

Brüssel war um die Jahrhundertwende eine der reichsten Handwerks- und Handelsmetropolen Europas. Der Reichtum damals ging auf den Handel, aber auch auf die brutalen Beutefeldzüge von König Leopold II. im Belgisch-Kongo zurück. Die grausame belgische Kolonialherrschaft bis zur Unabhängigkeit des zentralafrikanischen Staates 1960 wird nur langsam aufgearbeitet.

Die Hauptstadt Europas

Am Place du Luxembourg beginnt schließlich Europa mit all den Institutionen der Europäischen Union. Hier drängen sich EU-Parlament, EU-Kommission, EU-Rat, das Committee of the Regions, viele Museen und andere moderne, spiegelnde Gebäude aneinander. Abgeordnete, Journalist:innen, Lobbyist:innen und Politiker:innen aller Couleurs, aller europäischen und anderer Länder dieser Erde laufen im Europaviertel viele Kilometer zu hunderten Sitzungen am Tag.

Die EU-Institutionen

Im EU-Parlament

Ein Must-see für Besucher:innen ist das EU-Parlament. Nach dem Security Check wirbeln Menschen, Stimmen, Sprachen durcheinander. Das Tempo lässt den Atem stocken. Alles trifft sich in der zentralen Agora mit integriertem Broadcast Studio und flirrt dann durch ein Labyrinth aus Fluren in viele Gebäudeteile. Alle Themen, die die Welt gerade beschäftigen, werden diskutiert – von Kriegen, Armutsbekämpfung bis zum Klimawandel. Allein hier sind sechstausend der 55.000 Beamt:innen Brüssels tätig. Die Transparenz ist überraschend, überall kann man einfach Platz nehmen, zuhören und sogar mitreden.

Die Pionier:innen der EU wie Konrad Adenauer, Alice de Gasperi, Altiero Spinelli oder Anna Lindh und Sophie Weiss sind Namensgeber der Gebäudeteile und Räumlichkeiten des EU-Parlaments. Die Büros der Abgeordneten in dem 15-stöckigen Gebäudekomplex sind bescheiden. Fast zwei Drittel der Gesetze in unserem Land gehen auf EU-Richtlinien und Verordnungen zurück.

Während in dem einen Saal der Verteidigungsminister der Ukraine die Härte des Krieges live am Bildschirm erläutert und Frage und Antwort steht, diskutiert man zwei Stöcke höher den Terror in der Sahelzone und die Auswirkungen auf Europa. Zeitgleich geht es um den Klimawandel, Gleichberechtigung, den Umgang mit Künstlicher Intelligenz oder im großen Plenarsaal um die Europäische Arbeitsmarktpolitik. In diesem Saal gibt es mehr als 800 Sitzplätze – derzeit sind 705 von Abgeordneten besetzt, die Scheidung von Großbritannien hat 46 Plätze frei gemacht.

Das Herz der EU

Europawahl 2024

2024 ist die nächste Wahl zum Europäischen Parlament, die EU-Bürger:innen eine Chance zur Mitbestimmung bietet. In Belgien gehen aufgrund einer Wahlpflicht 90 Prozent der Menschen zur Wahl, im Rest der EU etwa 50 Prozent, in Österreich immerhin 60 Prozent der Bevölkerung. Europa ist auch bei uns präsent, aber in Brüssel versteht man die als Friedensgemeinschaft gegründete Europäische Union mit ihren heute 27 Ländern und 24 Sprachen einfach viel besser.

Wer das Parlament nicht real erlebt, kann online jede Sitzung verfolgen oder das zehn Schritte entfernte Parlamentarium besuchen – ein modernes Multimediamuseum. Ebenso ums Eck und wirklich interessant ist das Museum der Europäischen Geschichte. Hier wird Europas Geschichte aufgearbeitet und von einer interessanten, kritischen Seite präsentiert – der Eintritt ist gratis.

Der Place du Luxembourg ist ein Treffpunkt der Lobbyist:innen und Politker:innen am Tag. Nachts verwandeln sich die Cafés und Restaurants in die Partyzone der jungen und junggebliebenen Europäer:innen. In jedem Lokal ist ein anderer Musikstil zu hören. Zu feinen Cocktails erklingen heiße Rhythmen von House, Pop bis Maghreb Style.

Verruchte Viertel

Noch eine heiße Empfehlung: Nach einer langen Nacht, dem Besuch des Europaviertels und weitreichenden Spaziergängen durch die Stadt laden authentische Hamams zum Entspannen ein. Sie liegen in den "verruchteren" Vierteln und sind "weniger schicke Lifestyle-Oasen, sondern gemütliche Badeanstalten, wie sie die Menschen hier täglich aufsuchen".

So beschreibt diese der Romancier Robert Menasse im zweiten Teil seiner bekannten Europa-Trilogie. Für Teil eins, "Die Hauptstadt", ein Roman mit tiefgehenden Einblicken in die Institutionen der EU und die Menschen der Europäischen Union, erhielt Menasse den Deutschen Buchpreis 2017. Für das Buch übersiedelte er für vier Jahre nach Brüssel, um ein Gespür zu bekommen für das Leben hier.

Ein Tipp: Das Hamam "Le Riad" im Brabantviertel. Es liegt in einem alten Jugendstilgebäude und ist traditionell eingerichtet mit marokkanischen Elementen. Ein wenig in die Jahre gekommen, ist es dabei sehr gemütlich und authentisch. Im Keller befindet sich wie eine warme Höhle das nebelverhangene, voll besetzte Dampfbad. Im Waschraum daneben stehen marmorne Bottiche; dort gießen Frauen sich große Schalen Wasser über den Körper, bevor sie sich auf einem Steintisch der stattlichen Badefrau, Nadir genannt, und ihrer schrubbenden Befreiungstortur ausliefern. Nach dem Schwitzen, Schwatzen und Singen mit den Frauen im Baderaum gibt es Tee mit Minzblättern und marokkanische Suppe.

Märkte, Restaurants und Waterzooi

In Brüssel ist nicht nur die europäische Szene lebendig. Nach dem Brabantviertel geht es südlich der Altstadt ins afrikanische Viertel Matonge. Dort finden sich bunte Läden und faszinierende Märkte. Brüssel wechselt seinen Esprit von Straße zu Straße. Von Europa wechselt man zurück ins lässige flämische Brüssel, von Marokko nach Afrika und schließlich findet man sich in schicker französischer Szenerie.

Auf all diesen Wegen schmecken knusprige Pommes frites, zu belgisch "Frikots", zum Beispiel in der Maison Antoine, außerdem süße Waffeln oder belgische Schokolade. Letztere unbedingt bei Neuhaus probieren.

In der exklusiven Bar Non Peut-Être. "Kein Vielleicht", wie der Name sagt, sondern ein Muss, gibt es exklusive Weinsorten und Champagner. Wer ein typisches Bierbeisl sucht, ist im "Mort Subite" richtig. Ausgezeichnet zu Abend essen kann man im Restaurant L’Ogenblik in der Prinzengalerie. Empfehlung des Küchenchefs: der berühmte flämische Hühnereintopf Waterzooi. Köstlich.

Vom Atomium zur Comic Book Route

Sie haben noch Zeit? Dann hinaus an den Stadtrand in den Norden zum Atomium – das ist mit dem Bus sehr einfach. Nach einem Besuch in einem der Atome kann man in der grünen Lunge der Stadt, dem Parc de Laeken, entspannen und durchatmen.

Wer lieber in der Stadt bleibt: Die Comic Strip Route ist einen Spaziergang wert. Die Belgier lieben Comics, die sogenannten Bandes Desinnées. Die Autoren von Tim und Struppi, Lucky Luke, Gaston oder den Schlümpfen kommen aus Belgien. Seit 1991 werden Fassaden mit Comic-Helden und auch anderen Graffitis verziert.

Ein trauriges Kapitel: Vielleicht kurz in der Metrostation Maelbeek aussteigen. Dort wurde 2016 einer von zwei schrecklichen Terroranschläge verübt, der 32 Menschen das Leben kostete, 300 Menschen wurden damals verletzt. Im Eingangsbereich findet sich eine emotionale Erinnerungstafel mit persönlichen Worten gegen Hass und für den Frieden und die Liebe.

Sonnenplätze zum Genießen

Zum Verweilen laden auch die großen Plätze der Stadt ein. VIele sind Fußgängerzonen, gesäumt von Lokalen und oftmals einer Kirche in der Mitte. Zwei Tipps: der Platz Parvis de Saintes-Gilles mit seinem Pariser Chic und der Place Sainte-Catherine, beide sind auch Metrostationen. Am Place de Sainte-Catherine kann man bei Austern und Prosecco im Oysters & Smørrebrød die Seele baumeln lassen. Danach lohnt sich ein Wechsel ins Café Le petit Chou.

Hier schlage ich das Buch "Die Hauptstadt" von Robert Menasse auf. Denn genau hier auf diesem Platz in Brüssel beginnt der preisgekrönte Europa-Roman: "Da läuft ein Schwein. David De Vriend sah es, als er ein Fenster des Wohnzimmers öffnete, um noch ein letztes Mal den Blick über den Platz schweifen zu lassen, bevor er seine Wohnung für immer verließ."

Es entspinnt sich ein Roman über Europa, die EU, ihre Institutionen und die Bürokratie, die Gräueltaten in Auschwitz, einen Mordfall und all die Menschen, die mittendrin leben – ironisch, spannend, informativ und beeindruckend konstruiert. Lesenswert.