Auf Opas Spuren

Was hat der Großvater vor 75 Jahren wohl gefühlt, gehört und gerochen, als er in der „Tante Ju“ flog? Eine emotionale Zeitreise von Sohn und Enkel.

Es waren herrliche Sommer, Mitte der Achtzigerjahre. Ich war 10 Jahre alt und durfte in den Ferien endlich wieder zu Oma und Opa aufs Land. In meiner Erinnerung summen Bienen, es ist sonnig, die Erdbeeren aus dem Garten schmecken süß und pünktlich zu Mittag gibt’s von Oma das weltbeste Schnitzel und dazu „Autofahrer unterwegs“ aus dem Röhrenradio. Mit vollem Bauch stehe ich dann in Opas Holzwerkstatt, er repariert einen Sessel und ich bastle daneben aus einem Papierbogen mehr schlecht als recht ein Modell der Junkers Ju 52. 

Mein Großvater ist in den Kriegsjahren mit einer dieser – heute legendären – „Tante Ju“ Versorgungs- und Verwundeten-Flüge geflogen. Ich habe als Kind nie verstanden, warum er nur selten über diese Zeit sprechen wollte, und hätte gern mehr Geschichten gehört wie jene, als „seine Ju“ über Norwegen angeschossen wurde, Höhenruder und Leitwerk beschädigt waren, die Besatzung aber trotzdem auf einem verschneiten Feld sicher landen konnte. Mir stand der Mund offen, mein Opa war für mich ein Held und meine Faszination für die Fliegerei war geboren.

Dann kam mein Papa ins Spiel: Selbst vom Flug-Virus infiziert, organisierte er Vater-Sohn-Wochenenden für uns, an denen wir spaßhalber von Linz nach Wien flogen, um uns von der Schwechater Zuschauer-Terrasse beispielsweise die Erstlandung des AUA-Airbus A310 anzuschauen. Während eines London-Urlaubs lagen wir ganze Vormittage lang im Schlafzimmer, weil das Fenster Ausblick auf die Einflugschneise von Heathrow gab. Wir haben damals jede Landung in meinem kleinen Notizbuch dokumentiert – und noch heute kann ich fast fehlerlos am Himmel die Fluglinie und den Flugzeug-Typ bestimmen. Papa und ich waren Fliegerfreunde. Beide wollten wir insgeheim Piloten werden, es blieb beim Traum. An einem Herbsttag 1999 ist dann der einzige echte Flieger in der Familie gestorben: sein Vater, mein Opa. 

Fünfzehn Jahre später, ein Herbsttag am Flughafen Salzburg: Mein Vater und ich klettern über eine Leiter in die Kabine einer Ju 52 und wandern bergauf zu unseren Sitzen – die Ju hat hinten ein Spornrad und steht dementsprechend schräg. Wir befinden uns in der D-AQUI, einer der letzten flugtauglichen „Tante Ju“ weltweit. Sie wurde 1936 gebaut und hat eine bewegte Geschichte hinter sich: Erst Kriegsgerät in Deutschland, arbeitete sie später im norwegischen Liniendienst, dann unter dem Namen „Amazonas“ über den Urwäldern Ecuadors, wo sie schlussendlich neben dem Flugfeld der Hauptstadt Quito jahrelang vergessen wurde und vor sich hin rostete. Ein ehemaliger US-Pilot hat sich 1969 ihrer (um 5.000 Dollar) angenommen und sie bei amerikanischen Flugshows ein Dasein als „Iron Annie“ fristen lassen – bis sie 1984 von der Lufthansa entdeckt und in einem abenteuerlichen 14-Tage-Überführungsflug von Florida über Grönland, Island und England wieder heim nach Hamburg gebracht wurde. 

Zwei Jahre lang haben sich die Lufthansa-Techniker dann um das „verlorene Mädel“ gekümmert, es geduscht, gefüttert und geschminkt. 1986 durfte es technisch und optisch in frischer Pracht sein zweites Leben beginnen. Seitdem ist die D-AQUI als Rundflug-Attraktion etwa 5.000 Flugstunden unterwegs gewesen und hat dabei mehr als 120.000 Passagiere sicher an ihr Ziel gebracht. 

Per Handschlag werden mein Vater, ich und die 14 Mitreisenden auf dem heutigen Flug von Salzburg nach München von der Crew begrüßt, natürlich in nostalgischer Original-Montur. Der Geruch in der Kabine erinnert an eine Mischung aus modrigem Weinkeller, altem Leder und Motoröl. Die Sessel sind überraschend gemütlich, die Fenster riesengroß und ungewohnt, wenn man an die winzigen Sicht-Luken moderner Passagier-Jets gewöhnt ist…

Der Startvorgang ist spektakulär: Der linke der drei Neunzylinder-Sternmotoren wird angeworfen, er spuckt, stottert, man denkt, der Flieger fällt auseinander, es ist unglaublich laut, draußen sieht man nur eine graublaue Wolke, die 10 Tonnen Eigengewicht schütteln sich im Stand, dass die Brille auf der Nase kein klares Bild mehr ergibt. Mit meinem Papa, der direkt neben mir sitzt, kann ich auch schreiend kein verständliches Wort mehr wechseln. Dann folgen der zweite und der dritte Motor. Bis alle drei gemeinsam rund laufen, müssen die Piloten wie anno dazumal Gemischregler, Gashebel, Kraftstoffventile und Zündmagneten in Einklang bringen. Das dauert rund eine halbe Stunde. Dann rollen wir zur Startposition. Was vorher schon laut war, wird jetzt richtig laut. 

Der Captain beschleunigt und gemächlich setzt sich die „Tante Ju“ in Bewegung. Nach nur 500 Metern Anlauf heben wir mit 120 km/h ab, und sehr viel schneller wird es in den nächsten eineinhalb Stunden auch nicht mehr: Mit Tempo 160 Reisegeschwindigkeit und in 700 Metern Höhe drehen wir eine Runde über die Salzburger Festung und tuckern über den Chiemsee Richtung München. Der Ausblick ist fantastisch, vor allem die Sicht aus dem rundumverglasten Cockpit. 

Ich denke an meinen Großvater, der dieses Panorama wohl nie so unschuldig genießen konnte wie wir in diesem Moment. Unten taucht nun schon der Münchener Flughafen auf, die Zeit ist viel zu schnell vergangen. Ich hätte jetzt gerne, dass der Opa vorne sitzt, den Landeanflug vorbereitet, seinen Sohn und seinen Enkel hinter sich wissend, und „Klappen, Gemisch, Öldruck und Trimmung in Ordnung?“ sagt. 

Info: Auch heuer organisiert die Deutsche Lufthansa Berlin-Stiftung wieder Rund- und Streckenflüge mit der „Tante Ju“. Die Österreich-Termine finden Ende Juli/Anfang August statt, den genauen Flugplan mit Preisen finden Sie auf der Website der Stiftung.

Vielen Dank an den Flughafen Salzburg für die Zur-Verfügung-Stellung des Vorfelds während der Dauer der Fotoaufnahmen.