Tarek Leitner und die Banalität des Guten

Tarek Leitner im Interview: Sein neues Buch ist wie ein Roadmovie zur Zeitgeschichte Österreichs. Zweimal fuhr sein Vater auf der Reichsautobahn von Berlin nach Linz – mit 12 im Auto und mit 19 am Fahrrad.

Tarek Leitner ist Anchorman der beliebtesten Nachrichtensendung Österreichs und ein politischer Mensch. Er interessiert sich für Zeitgeschichte, schrieb bis dato drei Bücher, eines davon als Streitschrift gegen die Verschandelung Österreichs. Jetzt ist sein viertes da ("Berlin–Linz. Wie mein Vater sein Glück verbrauchte", Brandstätter Verlag).

Auf 240 Seiten beschreibt Leitner darin zwei Reisen seines Vaters: Die erste im Jahr 1938 im Alter von 12 Jahren, als dieser von Tareks Großvater nach Berlin mitgenommen wird, um einen DKW vom Werk abzuholen. Der Großvater ließ seinen 12-jährigen Sohn heimlich auf der neuen Reichsautobahn ans Lenkrad. Sieben Jahre später war Tareks Vater allein auf sich gestellt, als er sich zu Fuß durch die Wirren des eben zu Ende gegangenen Weltkriegs nach Hause durchschlug.

Um dieses Stück Familien- und Zeitgeschichte – zugleich auch ein Stück Mobilitätsgeschichte – dreht sich das Gespräch. Es findet in Tarek Leitners Wohnung in Wien statt.

— Wir sind hier in Ihrer Bibliothek. Wie viele Bücher haben Sie sich in die Arbeits-Quarantäne im ORF-Zentrum mitgenommen? Und welche?

Tarek Leitner: Über zehn, weil ich davon ausgegangen bin, dass ich viel Zeit zum Lesen haben werde. Hauptsächlich waren es Bücher über Politik und über Zeitgeschichte, ein paar Romane waren auch dabei. Ich lese aber nicht Werke ausschließlich zu bestimmten Themen, sondern quer durch. Viel zum Lesen bin ich in der Isolation im ORF nicht gekommen. Wir waren dort rund um die Uhr damit betraut, Sendungen vorzubereiten. Und weil man da schon beim Zähneputzen auf jene Menschen trifft, mit denen man gemeinsam eine Sendung macht, lässt es sich nicht vermeiden, schon da Gedanken auszutauschen.

— Ihre große Bibliothek, vor Ihnen dicke Alben, alte Zeitungen und Filmrollen: Was ist Ihr Antrieb zum Sammeln? Sind Sie ein manischer Sammler?

Tarek Leitner: Nein, ich hebe mir eigentlich nur Dinge auf, die für mich einen Wert haben. Ob das der Fall ist, das beurteile ich sehr individuell. Welche Dinge sind es, deren Wert über das Materielle hinausgeht, die sich aufzuheben lohnen? Für mich sind das Sachen, die in einem engen Zusammenhang mit meinem Leben oder mit dem meiner Familie stehen.    

— Wenn nicht Sie es geschrieben hätten – warum würden Sie dieses Buch lesen?

Tarek Leitner: Ich lese grundsätzlich gerne Biographien, weil sie die Möglichkeit bieten, zu überprüfen, wie man sich selbst in bestimmten Situationen verhalten hätte, welche Wirkung Ereignisse auf einen gehabt hätten und wie man sich selber unter anderen Lebensumständen entwickelt hätte. Denn Biographien lassen einen viel über das eigene Leben erkennen. Mein Buch ist mit einem starken Gegenwarts-Interesse geschrieben. Wir lernen daraus nicht nur über das Damals, sondern auch, wie sich unsere Gesellschaft entwickelt hat.

— Wie sind Sie auf die Idee zu dem Buch gekommen? Wann hat Ihnen Ihr Vater zum ersten Mal von seinen Fahrten von Berlin nach Linz erzählt?

Tarek Leitner: Den Stoff trage ich schon lange mit mir herum. Zum Glück habe ich in den beginnenden Nullerjahren Gespräche mit ihm geführt – etwa so wie wir zwei das jetzt tun, vorbereitet und strukturiert. Das habe ich aber nur getan, weil ich vorher vieles davon in Form von Geschichten bruchstückhaft und anekdotisch gehört habe. Diese anekdotischen Erzählungen wollte ich für mich in einen Zusammenhang bringen. Zuerst nur für die Familie – und das war später dann Anstoß zu dem Buch.

— Was glauben Sie, warum Ihnen Ihr Vater zuvor nicht die ganze Geschichte erzählt hat?

Tarek LeitneR: Ich war mir sicher, dass es Teile seiner Biographie gab, die er bis dahin nie erzählt hatte. Und das 60 Jahre nachdem die Dinge passiert waren. Ich glaube, dass das eine Sprachlosigkeit war, die auf viele Teile der Gesellschaft zutraf. Gründe dafür hat es vielfältige gegeben. Für meinen Vater dürfte der Grund darin gelegen sein, dass er meinte, das habe ja ohnedies jeder so erlebt. Deshalb ist auch vieles von dem, was er mir im Rahmen der Recherche erzählt hat, vorher nicht besprochen worden.

— Haben Sie sich in die Rollen Ihres Vaters und Ihres Großvaters hineinversetzt?

Tarek Leitner: Ja. Mit ist es ja darum gegangen, Geschichte aus der Perspektive des momentanen Geschehens zu beschreiben. Wir wissen heute ja alles darüber, was nachher war. Aber niemand wusste im Jahr 1939, als der Großvater seinen DKW in seinem Stadl im Salzkammergut versteckte, wie lange er dort eingewintert bleiben musste, bis der Spuk vorbei war.

"Es gibt so etwas wie die Banalität des Guten"

— Hätten Sie in bestimmten Situationen auch so reagiert wie Vater und Großvater?

Tarek Leitner: Eine schwierige Frage, die auch nicht wirklich beantwortbar ist. Genau das es ist das, was Biographien so spannend macht. Ich vermute, dass es so etwas wie eine Banalität des Guten gibt – Dinge, die nichts mit Erziehung, Herkunft oder Moral zu tun haben, sondern mit banalen Zufällen, Begegnungen und Ereignissen. Etwa als der 12-jährige Vater am 12. März 1938 am Hauptplatz in Linz darauf wartete, dass Adolf Hitler wie angekündigt in Erscheinung tritt. Der kam aber erst Stunden später – das zeigte meinem Vater, dass man sich auf Hitler nicht verlassen konnte. Da entwickelte sich dann etwas, was Haltung zu nennen ist, aber nicht aus einem großen moralischen Überbau, sondern aus Banalitäten.

— War Ihr Vater nach 1945 ein unglücklicher Mensch? Er sagte doch – und Sie zitieren das im Untertitel –, er hätte auf den beiden Reisen sein ganzes Glück verbraucht?

Tarek Leitner: Ich denke, dass das, was er als Glück bezeichnet, in Wirklichkeit Zufälligkeiten waren, die ihn in der Zeit von 1938 bis 1945 überleben ließen. Glückliche Umstände werden ja nicht immer als Glück empfunden. Etwa als ihn sein dicker Mantel während der Februarkämpfe 1934 vor einer Kugel schützte, das war ein äußerst glücklicher Zufall. Doch durch solche Zufälle wird man nicht zu einem glücklichen Menschen. Er ist ja nicht glücklicher geworden, weil ihn der Schuss nur gestreift hat.

— War der Vater in der Phase, in der sie ihn erlebten, eher Optimist oder Pessimist?

Tarek Leitner: Hm ... ich würde sagen, eher ein Pragmatiker. Diesen Optimismus nach dem Motto "Alles wird gut, das schaffen wir schon", den hatte er jedenfalls nicht. Aber Pessimist war er auf gar keinen Fall. Das Glück war auch weiterhin auf seiner Seite. Etwa, dass der südliche Teil von Linz von den Amerikanern besetzt war und nicht von den Russen – war ja schon wieder ein Glück. Als Schlagzeuger konnte er so in amerikanischen Clubs auftreten. 100 Meter nördlich konnten die Menschen davon nur träumen.

— War die Aktion, Ihren Vater mit 12 ans Steuer zu lassen, von Ihrem Großvater nicht verantwortungslos?

Tarek Leitner: Ich weiß aus den historischen Aufnahmen, dass die Frequenz auf deutschen Autobahnen damals noch viel geringer war als auf unseren heutigen in der Corona-Hochphase. Wenn man davon ausgeht, dass man damals bis zu einer halben Stunde lang fahren konnte, ohne ein anderes Auto im Blickfeld zu haben, dann ist das insofern gleichzusetzen damit, dass ich meine Kinder im selben Alter auf einer völlig leeren isländischen Straße mit dem Mietwagen fahren habe lassen. So weit oute ich mich hier. Meine Kinder dürften dabei das gleiche Hochgefühl verspürt haben wie ihr Großvater.

— Dann hat sich das Tempo-Gen in Ihrer Familie also erhalten, oder?

Tarek Leitner: (Lacht). Nicht in dem Sinne, dass es um Motorräder oder Autos geht. Es war beim Großvater ja eine Faszination für die Moderne. Der Umbruch in der Mobilität, der zwischen erstem und zweitem Weltkrieg geschah, ist ja nicht vergleichbar mit allem, was zuvor oder danach geschehen ist.

Autos sind heute vielleicht schneller unterwegs, fahren auf alle Fälle sicherer, ruhiger. Aber der Unterschied, dass es bis dahin überhaupt keine Straßen gegeben hatte, auf denen man nur mit dem Auto fahren durfte – das war ein ganz anderer, ein viel größerer Schritt. Zu ergründen, wie die Menschen damals diese große Verwandlung der Welt wahrnahmen, das war für mich das Faszinierende.

Der Umbruch hatte ja auch politische Implikationen. Denn wer vom Neuen so fasziniert ist, der kann auch von einer neuen Idee oder Ideologie so fasziniert sein. Noch dazu von einer, die sich auf diese Modernität draufsetzt. Der Nationalsozialismus hatte ja eine Ambivalenz – einerseits war er rückwärtsgewandt, andererseits vorwärtsgewandt, was technische Dinge betrifft.

Wer vom Neuen so fasziniert ist, der kann auch von einer neuen Idee oder Ideologie so fasziniert sein. Noch dazu von einer, die sich auf diese Modernität draufsetzt.

Tarek Leitner, ORF-Moderator und Buchautor

— Stichwort Autobahn.

Tarek Leitner: Ganz genau.

— Wusste der Großvater auf seiner Fahrt, dass der Autobahnbau ein Nazi-Propagandaschmäh war?

Tarek Leitner: Darüber habe ich viel nachgedacht. Es muss schwierig gewesen sein, das nicht in Zusammenhang mit dem Regime zu bringen, wenn man, wie Großvater und Vater, zuerst in Linz eine Ausstellung über den Autobahnbau besucht und bald darauf selbst auf der deutschen Autobahn fährt. Das Regime hatte ja einen Modernitätsmantel über den Terror gebreitet, nach außen hin Fortschritts-Affinität gezeigt. Dafür waren die Autobahnen ganz wichtig.

Und umgekehrt waren die Autobahnen selbst – als Notwendigkeiten der Zeit – auch eine Bühne, die den Auftritt des Regimes transportieren sollten. Wenn sie in die Landschaft gebaut worden waren, wirkten sie als Bühne. Und genau das stelle ich mir schwierig vor, das Unterwegs-Sein auf diesen Bühnen, die damals keine durch Wände begrenzten Schläuche waren, sondern die gestalterische Idee zweier in die Landschaft eingebetteter Betonbänder.

Die alten Schwarzweiß-Fotos davon machen die Autobahn als Bauwerk heute noch faszinierend – das darf man nicht unterschätzen. Oft wäre auch eine gerade Streckenführung möglich gewesen, die hat man aber absichtlich wieder verworfen. Die Nazis wollten bewusst "die deutschen Lande" gestalten.

— Bleiben wir beim Tausendjährigen Reich. Hat Ihr Großvater geahnt, dass es nicht tausend Jahre überstehen wird, als er sein Auto nicht der Kriegsführung zur Verfügung stellte, sondern es versteckte?

Tarek Leitner: Der "Einberufungsbefehl für das Auto" – so die tatsächliche Diktion – wurde ihm exakt eine Woche vor Kriegsausbruch zugestellt. Mein Vater war damals überzeugt, dass sein Vater den DKW nicht mutwillig beschädigt hätte. Bei der Aufarbeitung des Materials kamen wir aber darauf, dass er doch die Tür kaputtgemacht hat, damit das Auto unbrauchbar wurde und deshalb nicht eingezogen wird. Und er hat die Tür anschließend sogar noch herrichten lassen und anderswo versteckt, bevor er den DKW im Salzkammergut in einem extra gebauten Stadl quasi eingewintert und aufgebockt hat.

Insofern war schon klar, dass das Auto über eine schwierige Zeit hinweg gerettet werden sollte. Dass es sechs Jahre dort bleiben würde, wird ihm nicht klar gewesen sein, weil die deutschen Erfolge in den ersten Kriegsmonaten ja sehr rasch über die Bühne gingen. Die ganze Aktion führte zu der grotesken Situation, dass der Großvater zu einer Zeit, als alles darniedergelegen ist, also nach Kriegsende, ein Auto fast ohne Gebrauchsspuren benutzen konnte.

Vieles, was mir mein Vater erzählt hatte, hielt ich zwar nicht für unglaubwürdig, aber doch für unglaublich – für eine gut erzählte Geschichte mit einer Pointe. Im Zuge der Recherche ließ ich viele seiner alten Filme digitalisieren. Dabei kam ich drauf, dass er 1945 noch ein paar unbelichtete 16-mm-Farbfilme daheim hatte und filmen konnte, wie das Auto wieder aus dem Stadl herausgeholt wurde. Unglaublich: Er konnte im Juni 1945 Farbfilme drehen! Bekommen hat man damals schon lange keine mehr. Für mich war das Sichten dieses Films so etwas wie eine Beweisführung für die Richtigkeit der Auto-Geschichte. Der DKW fuhr aus eigener Kraft wieder auf die Straße.

Die Vermessung des eigenen Lebens

— Ihr Großvater war Uhrmacher, Fahrradhersteller, Rennfahrer – eine für diese Zeit extrem spannende Mischung. Sie beschreiben das als "neue Vermessung des eigenen Lebens". Wie ist das zu verstehen?

Tarek Leitner: Es war die Zeit, als Menschen begannen, alles zu messen. So wie wir das heute mit eigenen Apps bis hin zum Fitness-Tracker in die Absurdität steigern und alles, was wir sind, in Daten gießen. Begonnen hat das, als mein Großvater in seiner Werkstätte Uhren herstellte, die Fünftelsekunden messen konnten. Das brauchte kurz nach 1900 kaum jemand. Aber bei den Fahrradrennen wurde die Fünftelsekunde plötzlich wichtig – keine Ahnung, wie sie korrekt gestoppt wurde. Damit entstand plötzlich eine Datenflut, die es zuvor nicht gab. Durchschnittsgeschwindigkeiten wurden errechnet, Sollzeiten für Wertungsfahrten, Kraftstoffverbrauchswerte wurden kalkuliert, Lenkbewegungen und Schaltvorgänge registriert, um den Straßenbau zu optimieren. Mit all dem hat etwas Einzug gehalten, was ich die Vermessung des eigenen Lebens nenne. Damals hat das alles begonnen.

— Wie halten Sie es selbst mit Ihrer Mobilität?

Tarek Leitner: Sehr vielfältig. Ich war heute in der Früh mit dem Fahrrad beim Bäcker und nutze in der Stadt gerne E-Scooter-Sharing als ideales Verkehrsmittel. Schneller als mit ihnen komme ich nicht in die Innenstadt. Und ein Auto besitze ich auch, einen VW Touareg.

— Meine Abschlussfrage: Wie wird Ihr Leben nach Corona weitergehen? Und wie das Leben allgemein? Entschleunigt, wie für viele am Höhepunkt der Krise, oder ist genau das Gegenteil angesagt?

Tarek Leitner: Keine Änderung wird von selbst kommen, wir müssen sie gestalten. Die Krise hat aber gezeigt, dass wir uns, wenn sich unsere Art zu leben ändert, sehr schnell und sehr radikal umstellen können. Und wir müssen – das hat jetzt viel mit dem Buch zu tun – die Freiheit, die uns die Alliierten brachten, mehr schätzen. Denn etwas, das uns gar nicht abgeht, sagen wir gemeinhin, wissen wir auch nicht zu schätzen.

Jetzt haben wir für ein paar Wochen die Freiheit eingebüßt, über Gemeinde- und Staatsgrenzen gehen zu können – nicht, weil wir eine Diktatur hatten, sondern weil ein Virus durch die Welt gezogen ist. Aber wir haben nun am eigenen Leib gespürt, wie es ist, diese Freiheit nicht zu haben. Das macht sie uns hoffentlich wieder ein Stück mehr wert.

Tarek Leitner


Geboren am 25. September 1972 in Linz
Nach der Matura begann er 1990 beim ORF
Ab 1997 in der Redaktion der Zeit im Bild, die er seit 2007 auch regelmäßig moderiert
Er ist verheiratet und hat zwei Töchter
Er sammelt alles, was in Zusammenhang mit seiner Familie steht
Sein Großvater Rudolf Leitner war Uhrmacher und von Technik begeistert
Nach dem 2. Weltkrieg war Rudolf Leitner einer der Protagonisten des neu gegründeten ÖAMTC und 1947–49 Präsident des ÖAMTC Oberösterreich