Nicole Wesner: Durch Meditation zum Sieg

Die 37-jährige Box-Weltmeisterin hat vor vier Jahren ihren Vollzeitjob an den Nagel gehängt, um zu boxen – und zwar professionell. 

Nach dem Kampf ist vor dem Kampf: Im Juni siegte Nicole Wesner in ihrem 10. Profikampf durch K.O. (Knock-out, mit einem Schlag), jetzt konzentriert sie sich bereits auf ihre WM-Titel-Verteidigung am 4. September. "Bitte einen veganen Burger mit Süßkartoffeln und danach einen doppelten Espresso." Nicole gibt während des Interviews ihre Bestellung auf. Etwas müde sitzt sie vor mir und erzählt, dass man bei ihr zu Hause in der Küche nur Obst und Gemüse findet. Ich schaue auf ihre starken Oberarme, die mich nicht überraschen – schließlich dienen sie ihr als Kampfwerkzeug –, mein Blick bleibt an ihren Armgelenken hängen. Was sind das für Armbänder? "Das sind Malas", erklärt sie: buddhistische Gebetsketten. 

— Welche Verbindung hast du zum Buddhismus?

Nicole Wesner:Ich meditiere schon einige Zeit – lange vor meiner Boxkarriere. Begonnen hat alles mit Yoga, was ich eine Zeit sehr intensiv betrieben habe inklusive einiger Yoga-Urlaube in Ashrams, sogenannten Meditationszentren, etwa in Tirol. Später bin ich zum Buddhismus übergetreten. Ich meditiere täglich, meistens sogar zweimal am Tag. 

— Yoga, Meditation und Boxen: Wie passt das zusammen?

NICOLE WESNER: Ich habe früher Boxen nicht mit Meditation in Verbindung gebracht, das waren damals zwei unterschiedliche Dinge für mich. Aber mittlerweile glaube ich schon, dass ich während des Kampfs den Kopf besser frei bekommen und abschalten kann. Denn wenn die große Denkmaschine im Ring angeht, blockiert sie mich ja. Natürlich muss ich, wenn ich eine große Leistung vollbringen will, denken. Die Taktik ist sehr wichtig. Aber mir hilft es, wenn ich ganz im Hier und Jetzt bin, nicht in der nächsten Minute und nicht in der vorhergehenden Minute. 

— Würdest du sagen, dass dir Meditation bereits zum Sieg verholfen hat?

NICOLE WESNER: Eigentlich schon. Als ich zum ersten Mal einen Kampf mit einem Knock-out gewonnen habe, konnte ich mich an den Schlag irgendwie nicht mehr erinnern. Meine Gegnerin lag am Boden. Ich habe mir wochenlang danach den Schlag per Video angesehen. Ich wusste nicht, wie ich es geschafft hatte. Habe mir die Szene immer und immer wieder angesehen. Mein Trainer sagte dann zu mir: "Ganz klar, Nicole, du hast zum ersten Mal nicht nachgedacht, sondern einfach geboxt."

Boxen ist meine Leidenschaft. Ich muss mich nicht immer wieder neu für einen Wettkampf motivieren, denn wenn ich einmal ein Training auslasse, sehe ich einen Rückschritt. 

Nicole Wesner, Profi-Boxweltmeisterin

—  Wie ist so ein überzeugter Yogi wie du zum Boxen gekommen?

NICOLE WESNER: Ich habe immer wieder neue Yoga-Zentren ausprobiert. Vor etwa sechs Jahren bin ich in Wien in einem gelandet, das sich "Zentrum für Körper und Geist" nennt. Boxen ist da eines der Fitness-Angebote. Ich habe dann gefragt, ob ich es ausprobieren kann, und bin ab der ersten Stunde hängen geblieben. 

— Damals hattest du noch deinen Vollzeitjob als Marketing-Managerin. Wie kam es dazu, dass du den an den Nagel gehängt hast?

NICOLE WESNER: Boxen hat mich einfach total angesprochen. Ich habe dann angefangen an Sparrings teilzunehmen und auch alleine zu üben. Irgendwann habe ich mir das Ziel gesteckt: einmal ein richtiger Kampf. Manche joggen jeden Tag, um einmal einen Marathon zu laufen; mein Ziel war es, im Ring zu kämpfen.

Laufen und Kraftsport haben mich davor nicht wirklich interessiert. Ich habe mir einen Verein gesucht, täglich trainiert. Ich musste richtig viel trainieren, da ich kaum Ausdauer hatte. Von 0 auf 100 sozusagen. Dann kamen die ersten Kämpfe – und 2011 bin ich Österreichische Staatsmeisterin im Amateurboxen (Leichtgewicht) geworden. Danach war es klar für mich: der nächste Schritt ist Profiboxerin. Zwei Jahre später hatte ich den Weltmeister-Titel in der Tasche.

— Du wurdest im Alter von 37 nach nur zwei Jahren Profi-Boxen Weltmeisterin. Schätze ich dich richtig ein, wenn ich sage, dass du ein sehr zielstrebiger Mensch bist?

​NICOLE WESNER: Auf jeden Fall. Ich setze mir Ziele und steuere sie zu 100 Prozent an. Lustigerweise hat mein Boxumfeld aus der Amateurszene – Leute, die schon seit 10 oder 20 Jahren boxen – ihren Zweifel gehabt. Sie haben alle gesagt: "Nicole, lass es gut sein. Geh deinem Job nach und verwirkliche dich als Trainerin." Aus meinem privaten Umfeld – Menschen, die nichts mit Boxen am Hut haben, aber mich als Person kennen – sagten alle: "Du kommst ganz hinauf. Du willst es so."

— Wie hast du es geschafft, dich bei deinen Konkurrentinnen durchzusetzen, die alle seit ihrer Kindheit boxen? 

NICOLE WESNER: Ich habe immer an mich geglaubt. Am Anfang war ich natürlich hinten nach, doch sobald ich das Level meiner jüngeren Konkurrentinnen erreicht hatte, waren das Alter und meine geringere Erfahrung egal. Ab dem Zeitpunkt war ich auf einer Ebene mit ihnen. Und dann geht es darum, wie man sich im Augenblick ernährt und wie man dem Körper etwas Gutes tut. Ich esse zum Beispiel nach einem erfolgreichen Training kein Fast Food. Ich vermisse keine Clubs und keinen Alkohol. Das ist bei jungen Menschen anders. Die werden vielleicht manchmal dazu verleitet. Ich habe meine Jugend gelebt und konzentriere mich nun ganz auf meine Leidenschaft.

— Welche Rolle spielt der Trainer?

NICOLE WESNER: Der Trainer ist natürlich enorm wichtig. Ich habe mich sehr gut informiert, wo und mit wem ich trainieren möchte. Das ist auch anders, wenn man in sehr jungen Jahren zu boxen beginnt: Man geht in den Verein um die Ecke, weil die sind eh nett und eh gut. Und dort bleibt man dann. Ich aber habe mir meinen Trainer gezielt ausgesucht.

Im Alter von 9 bis 13 habe ich Leichtathletik gemacht, als Leistungssport. Davon profitiert mein Körper noch heute.

Nicole Wesner, Profi-Boxweltmeisterin

— Wie ernährst du dich, um deinen Körper WM-fit zu machen?

NICOLE WESNER: Ich habe verschiedene Ernährungsmethoden ausprobiert und habe mich jetzt für "High Carb Low Fat" entschieden. Meine Ernährung besteht zum größten Teil aus Rohkost. Ich bin aber keine Vegetarierin. Ich esse schon auch Fleisch, zum Beispiel im Restaurant. Oder Fisch. Ich bin sozusagen eine "Flexitarierin". 

— Was isst du zu Mittag?

NICOLE WESNER: Im Sommer zum Beispiel selbstgemachtes Bananeneis (lacht). Banane ist einfach eine gute Basis. Manchmal gebe ich Zimt, Datteln, Rohkakao, echte Vanille oder andere Früchte wie Mango dazu. Ich esse mindestens zehn Bananen am Tag (lacht). Oder ich mache mir einen Salat ohne Öl und Essig, oder einen Obstsalat.

— Wie achtest du darauf, dass du genügend Eiweiß zu dir nimmst?

NICOLE WESNER: Ich führe ein Ernährungstagebuch über eine App. Eiweiß, Kohlenhydrate und Vitamine werden darin sehr gut aufgelistet. Die Berechnung ist sehr genau. Wenn ich sehe, dass ich sehr wenig Eiweiß zu mir genommen habe, weil ich den ganzen Tag nur Obst gegessen habe, dann mache ich mir einen Broccoli-Salat, ein Gericht mit Chia-Samen oder einen Reis-Protein-Shake, der ebenfalls auf Rohkostbasis hergestellt wird.

Mein Traum ist es, einmal in Las Vegas oder im Madison Square Garden in New York zu boxen. Da sieht die ganze Welt hin. Frauen boxen dort leider nicht, es ist doch ein sehr männerdominierter Sport.

Nicole Wesner, Profi-Boxweltmeisterin

— Wie hat sich dein Leben verändert, seitdem du Profi-Boxerin bist?

NICOLE WESNER: Meine Prioritäten haben sich verschoben. Ich hatte früher eine schöne, zentral gelegene Wohnung und einen Audi als Firmenwagen. Finanzielle Unabhängigkeit und Sicherheit waren mir sehr wichtig. Ich habe sehr viel gearbeitet, ich hatte Spaß dabei. Jetzt ist mein Leben sehr stark darauf ausgelegt, dass es meinem Körper und meinem Geist gut geht. Auch wenn in ein paar Jahren das Boxen vielleicht nicht mehr an erster Stelle stehen wird, wird diese Priorität sicherlich bleiben. Das ist in meinem jetzigen Job auch Grundvoraussetzung, um überhaupt Leistung bringen zu können. 

— Wie sieht dein typischer (Trainings-)Tag aus?

NICOLE WESNER: Ich meditiere morgens eine Stunde und habe dann meine erste Trainingseinheit. Mittags habe ich meistens etwas zu erledigen, da ich mich ja selber manage. Nachmittags steht meine zweite Trainingseinheit am Plan und abends meditiere ich nochmals ein oder zwei Stunden und höre zum Einschlafen ein Hörbuch. Zur Zeit höre ich spanische Märchen und ein Sachbuch, ebenfalls auf Spanisch, von Eckhart Tolle. Auf Deutsch heißt es: „Jetzt! Die Kraft der Gegenwart.“ Je nachdem, worauf ich gerade Lust habe. Ich bin gerade dabei, vor meinem Spanienurlaub mein Spanisch aufzufrischen.

— Wo siehst du dich in zehn Jahren? 

NICOLE WESNER: Ich verändere mich täglich. Das kann ich heute nicht sagen. In zehn Jahren werde ich ein ganz anderer Mensch sein als heute. Es kann sein, dass ich Leistungssportler trainiere, es kann aber auch sein, dass ich in ein buddhistisches Zentrum gehe, oder…