Menschenliebe

Viele helfende Seelen sind in Österreich unterwegs. Sie fahren für ihre Arbeit bis in die verstecktesten Winkel unseres Landes. Sind da, wenn alle Stricke reißen. Sie schenken Wissen, Zeit und Geborgenheit.

Horst fühlt sich mit viel Empathie in die Welt des 13-jährigen Philipp und dessen Mutter Michaela ein. Er ist für SOS Kinderdorf mobil tätig. Altenpflegerin Theresa versprüht viel positive Energie. Sie pflegt die lustige Waltraud in Limberg am Atter­see, die in einem alten Bauernhaus mit ihren drei Langhaarkatzen lebt. Die Rettungssanitäter Noël und Wanderley sind unermüdlich für das Rote Kreuz in Sachen Covid-19-Testungen unterwegs. Carmen unterstützt mit viel Liebe obdachlose Menschen auf der Straße. Kathrin coacht junge Menschen auf dem Weg zurück in den Arbeitsmarkt, aktuell ein besonders herausforderndes Unterfangen. Zivildiener Christoph bringt den 24-jährigen lebenslustigen und kommunikativen Thomas, der im Rollstuhl sitzt, im Nu zum Lachen – oder ist es doch umgekehrt?

auto touring hat knapp vor dem zweiten Lockdown Helfer/-innen, Sozial­arbeiter/-innen, Betreuer/-innen und ihre Schützlinge besucht. Sie sind mobil, fahren in weitab ge­legene Dörfer in Tirol und in äußerste Grenzregionen im Südburgenland, sind mit Bussen, Dienst­autos, privaten Pkw, öffentlichen Verkehrsmitteln oder zu Fuß unterwegs – bei Tag und bei Nacht, im Winter und im Sommer, mit und ohne Corona. Sie begegnen in ihrem Job psychisch und körperlich Kranken, Menschen nach Schicksalsschlägen und solchen, die es im Leben von Anfang an nicht gut getroffen haben.

Eines ist allen gemeinsam: Sie lieben ihren Job und die Menschen, für die sie da sind. Sie erleben viel Freude und Dankbarkeit. Horst bringt es auf den Punkt: "Ich ärgere mich nicht über alltägliche Sorgen, weil ich weiß, wie gut es mir in Wahrheit geht." Lebens­welten, vor denen manche gern die Augen verschließen, doch in denen viel gelacht wird und die schönen Momente des Lebens zelebriert werden. Lassen Sie sich berühren.

Grenzerfahrung

Der 13-jährige Philipp* lebt mit seiner Mutter Michaela* in einem kleinen Grenzort im Burgenland. Wir betreten das alte Zollhaus, in dem der 13-jährige Philipp mit seiner Mutter wohnt. Im Flur hängt bunte Weihnachtsdeko, der Küchentisch ist liebevoll gedeckt. Seit April ist Horst Langer, Familien-Intensivbetreuer von SOS Kinderdorf, zwei Mal in der Woche hier. Überforderung des Familiensystems durch unvorhersehbare Ereignisse, lautet die offizielle Begründung.

Horst hat viele Jahre Erfahrung, betreut fünf weitere Familien im Südburgenland und fährt mehrere hundert Kilometer in der Woche. Einen Ausgleich findet er bei seinen drei Kindern, als Landwirt und Hobbypilot.

Michaela erzählt offen: "Der Bub ist mein Schatz, aber er war immer eine Herausforderung. Er hat eine autistische Spektrumstörung, Asperger. Letztes Jahr ist mein Partner, Philipps Stiefvater, plötzlich an einem Herzinfarkt verstorben. Das war der Anfang." Philipp reagierte mit Rückzug. Während des ersten Lockdowns verlor er sich in einer virtuellen Computerspielwelt, spielte Tag und Nacht, war gereizt. Die Schulschließung im Lockdown tat das Übrige.

Die Mutter war überfordert. Es war zu viel auf ein Mal – der Tod, der Bub in einer schwierigen Phase, die Schulschließung, finanzielle Themen. Philipp war acht Wochen in einem Heilpädagogischen Zentrum und nur am Wochenende zu Hause, das hat Ruhe und Klarheit gebracht.

Philipp kommt aus seinem Zimmer, er ist freundlich, setzt sich an den Tisch und spielt mit seiner süßen Hündin. "Eltern meinen es meistens gut, setzen aber manchmal die falschen Maßnahmen. Das hat auch mit der eigenen Sozialisation zu tun", erklärt Horst, der seit Jahrzehnten in der Jugendarbeit tätig ist. Philipp brauche sehr klare Regeln, die strikt eingehalten werden, und vielfältige Vorschläge für seine Tagesgestaltung.

Horst gibt Michaela erzieherische Tipps, aber auch sein Rechts- und Finanz-Know-how sind gefragt. "Unser Sozialsystem ist ein Dschungel", weiß Horst. Die Schuldnerberatung nehme massiv zu, die Pandemie wirke sich dramatisch aus: psychologisch und finanziell, besonders bei jenen, die es ohnehin schwer haben. Er macht sich Sorgen. Ein neuer Lockdown, Kurzarbeit und keine Besuche durch das SOS Kinderdorf, nur Telefonate sind möglich. Außerdem fehlt die wichtige Infrastruktur des regelmäßigen Unterrichts in der Schule, die dringend gebraucht wird.

*) Namen von der Redaktion geändert.

"Wir plaudern immer"

Der Weg ist steil bis zum alten Bauernhaus von Traudi, wie sie von Theresa Gall freundschaftlich genannt wird. "Es ist schon vorgekommen, dass uns der Nachbar mit seinem Traktor unten geholt hat", lacht die ausgebildete Altenbetreuerin der Caritas Linz. Manchmal stapft sie auch zu Fuß durch den Schnee. Heute plagt eher der dichte Nebel, der leider auch den großartigen Blick auf den schönen Attersee verschluckt.

"Olle staunen immer", lacht Waltraud, die uns zur Begrüßung mit dem Rollator entgegenkommt und gleich stolz ein großes Foto mit dem Ausblick bei Sonnenschein hervorholt. Im Vorraum ist ein liebevoll gestalteter Herrgottswinkel, an der Wand hängen viele Auszeichnungen für die schönste Blumendekoration im Dorf mit Fotos, die eine überbordende bunte Blütenpracht in riesigen Trögen zeigen.

Aber im Garten kann Waltraud nicht mehr arbeiten. Das macht jetzt Hans, der Bauer vom Nebenhof. Er beheizt auch den Kachelofen mit Holz, weil "i hob koa Schmalz ned in meine kaputten Finga". Beine bandagieren, Insulin spritzen, Blutdruck messen und zwei Mal in der Woche Waltraud beim Duschen helfen, das sind die Aufgaben von Theresa. "Plaudern tun wir sowieso immer, gell, Traudi", wendet sie sich an die alte Dame und streichelt die graue Katze Stubsi, die den Blutdruckmesser inspiziert, über das langhaarige Fell.

Waltraud liebt es, über ihre drei Katzen zu sprechen: "Stubsi und Burli kau ma ned lockn, oba die Susi is wia a Baby, so gsellat." Später erzählt die 75-Jährige, wie sie mit zehn Jahren nach Limberg gekommen ist, als Pflegekind, weil die Mutter es nicht leicht hatte nach dem Krieg. Sie hat acht Jahre die Volksschule besucht und dann am Hof geholfen. Harte Arbeit.

An der Wand in der Stube hängen Schwarzweißbilder von der Mutter, dem verstorbenen Ehemann, von Pflegemutter, den Großtanten und Pflegevater. Hier scheint die Zeit stillzustehen. Was sie den ganzen Tag so mache? "Zeitung lesen, kochen, Radio hören, fernsehen. Mit den Mutzikatzi spü'n. Wenn i allani bin, fühl i mi wohl", lacht Waltraud. Trotzdem freut sie sich immer, wenn Theresa kommt. "Dann haut die Traudi gern so a paar Trümpfe raus", erzählt Theresa und beide lachen.

Die neue Normalität

Die Salzburger City ist menschenleer. Geisterhaft. Die Feste Hohen­salzburg ist in dichten Nebel gehüllt. Nicht weniger unheimlich wirken Noël Della­fior (im Bild oben links) und Wanderley Hernandez in voller Montur: Einmalschürze, FFP2-Maske, Handschuhe und Schutzbrille, darunter die Rote-Kreuz-Sanitäter-Bekleidung, in den Händen ein Abstrichstäbchen, ein Taschentuch für den Patienten zum Schnäuzen, ein Probenfläschchen und ein Datenblatt. Getestete erfahren ihr Ergebnis via App.

Ein wenig fühlt sich das immer noch an wie in einem schlechten Film. Aber inzwischen repräsentieren die zwei sympathischen Burschen eine neue wie traurige Normalität. Beide wurden im Zivildienst zu Rettungs­sanitätern ausgebildet – und sind vorerst geblieben. Denn ihre Arbeit ist gerade jetzt enorm wichtig. Nach einer eintägigen Einschulung durch eine Hygienebeauftragte sind sie seit dem Frühjahr für das Rote Kreuz täglich ab sieben Uhr morgens unterwegs, im Moment als eines von zehn Test-Teams. Von Salzburg Stadt bis in die nördlichsten Zipfel des Flach- und Tennengaus – aber im Gegensatz zum Frühjahr nahezu ohne Pause. "Die zweite Welle ist mit aller Kraft da, dazu kommt die Grippesaison. Die Menschen sind nervös und wir sind gefordert", sagt Noël.

Video: So laufen Covid-19-Test ab

Das Rote Kreuz hat wie viele andere Hilfseinrichtungen vorausgedacht, im Notfall könnten die beiden ihre Arbeit auch alleine ausführen, sollte es hart auf hart kommen. Corona beeinträchtige in keiner Weise den Rettungs- und Krankentransport.

"Im Frühjahr sind wir von täglich 600 neu infizierten Personen ausgegangen, allerdings bei einer ­höheren Hospitalisierungsrate. Dadurch haben wir noch Reserven", erklärt Landesrettungskommandant Anton Holzer. Seit 29. Februar 2020 wurden in Salzburg 16.000 Abstriche abgenommen, 40.000 weitere in einer der 10 Teststraßen im Bundesland. Heute steht ein Seniorenwohnheim auf dem Plan. Das wird wohl noch ein längerer Arbeitstag.

Orientierung für Jugendliche

Wenn Kathrin in ihren Dienstwagen steigt, freut sie sich darauf, zu helfen. Die junge Mutter ist eine von sechs Betreuerinnen für jugendliche Arbeitssuchende im Alter von 15 bis 25 Jahren für das Projekt "Job 4 you" der Volkshilfe Niederösterreich mit Unterstützung des AMS NÖ.

"Wir sprechen von jährlich 600 zu vermittelnden Jugendlichen", so die 36-Jährige. Keine leichte Aufgabe für die Betreuerinnen, die in mehrere Bezirke in Niederösterreich pendeln, wo sie jungen Menschen Orientierung und Hilfe bieten – bei Lebenslauf, Motivations- und Bewerbungsschreiben oder Vorstellungsgespräch.

Treffpunkte sind seit Ausbruch der Corona-Pandemie die Volkshilfe-Büros, davor wurden die Räumlichkeiten des AMS genutzt. Hie und da wird auch ein Kaffeehaus oder eine Parkbank zum Ersatzbüro. Denn der persönliche Kontakt ist sehr wichtig. "In diesem Alter benötigen die Kids jemanden, der ihnen hilft und sie berät, bei dem sie sich sicher fühlen und Rückhalt bekommen, das geht, wenn möglich, am besten, wenn man einander trifft", so die Betreuerin. Eine große Herausforderung in diesem Jahr. Doch mit den nötigen Regeln, mit Mundschutz und Desinfektionsmittel gelingt es. "Ohne persönlichen Kontakt ist der Zugang viel schwerer", ist Kathrin überzeugt.

Viele der Teens und Twens freuen sich auf die Termine, die ihnen eine gewisse Regelmäßigkeit bieten. Dabei erfahren die Betreuerinnen auch viel über die Lebensgeschichte der Schützlinge. Oft fällt es der zwei­fachen Mutter schwer, die Arbeit nicht mit nach Hause zu nehmen. Zu viele Schicksale gehen ihr ans Herz. Doch blickt sie ins dankbare Gesicht ihres Schützlings, weiß sie, dass sie was richtig macht. 

"Wir bauen Brücken"

Es ist kühl. An der wild bemalten Graffitiwand lehnt ein riesiges Stoff-Nilpferd, schmutzig, einfach abgelegt. Ein paar Meter weiter liegt ein Mann. Er scheint zu schlafen. Man sieht nur sein dunkles Haar, eine Hand mit einem Ring. Der Körper verschwindet bis zur Stirn im blauen Schlafsack. Ein wärmender Schutz, kein lebensbedrohliches Indiz. Wir gehen vorbei.

"Da nehmen wir Rücksicht. Viele schlafen am Tag, sie müssen sich erholen. Das Leben auf der Straße ist hart", erklärt Carmen. Sie ist Straßensozialarbeiterin bei "Obdach unterwegs", einer Einrichtung der Wohnungslosenhilfe, die vom Fonds Soziales Wien finanziert wird.

Gemeinsam mit 17 ausgebildeten Kolleginnen macht sie Streetwork. Es ist die niederschwelligste Hilfe für Menschen. Carmen ist immer zu zweit mit einem Kollegen und bis zu sechs Stunden täglich unterwegs, meistens zu Fuß. Auf vorgegebenen Routen oder, wenn ein Auftrag eingeht, auf direktem Weg zu "Klienten". Es gibt eine enge Kooperation mit Behörden und Hilfsorganisationen und es gibt die Kälte-App, mit der jeder Spaziergänger Hilfe rufen kann.

Im Vorjahr gab es mehr als tausend Meldungen. 12.000 Menschen waren 2019 obdachlos, zwei Drittel davon Männer, die meisten im mittleren Alter, rund ein Viertel sind Jugendliche unter 18. Es gibt psychische Erkrankungen, bei fast allen sind Drogen ein Thema, meist Alkohol.

"Wohnungslosigkeit kann jeden treffen – und das oft unerwartet", betont Carmen. Corona habe die Situation verschärft. Anlass für die Gründung des 24-Stunden-Dienstes war die Flüchtlingswelle 2015. Viele sind aus dem System gefallen, besitzen keine Dokumente und oft keine Aufenthaltsgenehmigung. "Akut versorgen wir mit Schlafsäcken, mit einem Gespräch; manchmal bringen wir Suppen oder Tee", erzählt Carmen.

Das Ziel ist langfristig die Rückkehr – ein weiter Weg. Nach der Akuthilfe, gibt es Tageszentren, Nachquartiere, sogenannte Chancenhäuser und dann das Übergangswohnen. Es gilt das Prinzip der Freiwilligkeit. "Wir bauen eine Brücke", sagt Carmen. Und ergänzt: "Ich mag es, Menschen auf ihrem Weg zu begleiten, sie ein Stück zu tragen und zu sehen, wie es ihnen wieder gut geht." Viele schämen sich. Es braucht Vertrauen und viel Zeit.

Sonnenschein in Tirol

Draußen ist es frisch, aber sonnig. Österreichs höchste Dreitausender ragen mit weißen Schneekuppen in einen blitzblauen Himmel. Zivildiener Christoph Haider rollt den 24-jährigen Thomas Steiner im Rollstuhl vor das Haus der Lebenshilfe Tirol. Der strahlt wie ein Schneekönig, sein Lachen wird uns den ganzen Tag begleiten. "Unser Sonnenschein", sagt Richard Schneider, der den Standort in Matrei seit vielen Jahren leitet.

"Das Ziel ist ein weitgehend selbstbestimmtes Leben und Inklusion", so Schneider. Er liebt seinen Job, ist Hobby­imker und begeisterter Jäger. Erst gestern habe er wieder eine 35 Kilo schwere Gams vom Berg heimgetragen. Mit Steigeisen, um nicht auf der steilen Wiese auf 2.700 Metern Höhe auszurutschen. 

Die Lebenshilfe in Matrei begleitet mit elf Mitarbeiterinnen 32 Menschen mit Behinderungen. Fast alle von ihnen arbeiten – in Recycling­höfen, im Sozialladen "Kraut & Rüben" oder für den Nationalpark Hohe Tauern. Thomas führt den Speiseplan und schreibt Listen, er kann gut mit dem Com­puter umgehen. "Zivi" Christoph, der die HTL für Holzbau abge­schlossen hat, wirft den Kleinbus mit Tempo in die engen Kurven des Virgentals. "Das ist flott", bemerke ich vorsichtig. "Nein!", lacht Thomas. "Wir sind kurven­reiche Strecken gewöhnt", meint Christoph. Aber, beruhigt er: "Alle Zivis müssen ein Fahrsicher­heitstraining beim ÖAMTC ab­solvieren."

Viele der Klienten leben weit oben in den Bergen. "Es ist oft steil und das Wegenetz in Tirol ist riesig. Wir fahren in Matrei mit den zwei Bussen 100.000 Kilometer im Jahr, tirol­weit sind es 2,5 Millionen Kilometer", infor­miert Richard. "Wann immer es möglich ist, setzen wir auf Öffis."

"Ketten rauf, Ketten runter, das kann hier jedes Kind", erklärt Christoph. Im Vorjahr lag schon im November viel Schnee. Das Virgental, wo Prägraten liegt und Thomas mit seiner Mutter wohnt, war abgeschnitten. Vor uns liegt das Großvenediger-Massiv, die Gletscher und verschneiten Gipfel sind ein grandioses Panorama in der Abendsonne.

"Wie heißt der Gipfel?" Ich deute aus dem Fenster. "Der Wölle…", sagt Thomas. "Wow, das weißt du?" Da kann sich Thomas nicht mehr halten vor Lachen. Er hat die Wienerin erwischt. Der Berg heißt nicht Wölle, Thomas hat nur auf gut Tirolerisch zurück­gefragt: Welcher?