Mein Afrika
Nichts ist wie zu Hause: Erfahrungen zwischen Kenia und Timbuktu.
Ich erinnere mich, dass ich in Afrika häufig Furcht und Freude zugleich empfand. Vielleicht war es aber auch nur Respekt vor dem Unbekannten und das Glück, hinter einen bisher zugezogenen Vorhang spähen zu dürfen, dem eigentlichen Treibstoff jeder vernünftigen Reise. Furcht vor dem Fremden ist ja irrational. So gesehen entsprachen meine Befürchtungen über Afrika den heimlichen Vorstellungen eines Besuchers aus einer österreichischen Kleinstadt, der zum ersten Mal um Mitternacht mit der Wiener U-Bahn unterwegs ist.
Auf dem Markt von Kumasi in Ghana, angeblich der größte Westafrikas, waren ich und meine kleine Reisegruppe die einzigen Weißen unter Zehntausenden. Ich empfand Gleichgültigkeit und Ablehnung fast körperlich. Mein Instinkt riet mir zur sofortigen Flucht. Doch heute denke ich mit Wehmut an diese Stunden, die ich zwischen gestapelten klapprigen Eiskästen, mit Gummisandalen tapezierten Blechwänden und auf Köpfen balancierten Plastikcontainern verbringen durfte. Ich tue mir schwer, etwas wegzuwerfen. Es könnte ja in Kumasi dringend gebraucht werden.
Die Rezeption Afrikas in unserer Öffentlichkeit hat nichts mit unserem Nachbarkontinent jenseits des Mittelmeers zu tun – egal, ob es sich um romantische Verklärung als Safari-Kulisse oder geradezu lächerliche Verunglimpfung als einer Art „Hort des Bösen“ handelt: böse Terroristen, böse Diktatoren, böse Krankheiten, böser Schmutz.
Elefanten und Al-Kaida
Als Projektionsfläche eigener Wünsche (oder eigenen Versagens) hat der Kontinent Jahrzehnte nach Karen Blixen ("Jenseits von Afrika") und verhungernden Biafra-Babys in den Abendnachrichten jedenfalls nichts eingebüßt. Es ist der Blick der Kolonialisten und Eroberer, aber auch der Geber und Helfer geblieben. Fast immer ist Afrika Objekt, kaum jemals Subjekt.
Als ich vor etwa 20 Jahren das erste Mal in Afrika war, besuchte ich als Reisejournalist mit dem African Safari Club (ASC) Kenia. Im Strandclub markierte ein an Palmen befestigtes Seil die Grenze, bis zu der sich die Strandverkäufer den (noch) bleichen oder (schon) roten Gästen in ihren Liegen nähern durften. Der Austausch von Devisen gegen Souvenirware fand über diese Demarkationslinie hinweg statt. An einem anderen Tag fuhren wir mit dem Bus vom Strand weg durch die Savanne zu einer Frauen-Kooperative, die mit der Herstellung von Handarbeiten Geld verdiente. Während wir durch ein Dorf kamen, warfen die Touristen den am Straßenrand winkenden Kindern durch die einen Spalt geöffneten Busfenster Bonbons zu. Selten in meinem Leben habe ich mich mehr geschämt.
Wieder ein paar Tage später fuhren wir in den Tsavo-Nationalpark, um die Elefanten zu bestaunen. Ich erinnere mich, dass mein Mobiltelefon just in dem Moment läutete, als wir einer Herde begegneten. Ein Kollege rief aus der Redaktion in Wien an und fragte mich, ob ich wohlauf sei. Später stellte sich heraus, dass ein Al-Kaida-Kommando einen mit Sprengstoff beladenen Lkw in der Lobby eines Hotels nahe Mombasa gesprengt hatte, Dutzende Menschen waren ums Leben gekommen.
Der traurigste Ort, den ich während dieser Reise besuchte, war die Ansammlung von Bars vor der streng bewachten Einfahrt zum Ferienclub. Hier warteten die schwarzen Prostituierten auf die einsamen weißen Massas.
Im Reich des verrückten Oberst
2009 war ich mutiger geworden und flog nach Libyen. Nun könnte man meinen, dieses Land, das damals vom völlig verrückten Ex-Oberst Muammar al-Gaddafi beherrscht wurde, liege nur geographisch in Afrika, sei aber eigentlich eine arabische Diktatur par excellence gewesen. Doch die Mischung aus sinisterer Herrschaft, unermesslichen Bodenschätzen, arabischer Kultur und skurrilen Vorschriften zog mich samt der mit Europa auf vielfältige Weise verbundenen Geschichte an. Ich suchte mir einen in arabischen Ländern erfahrenen Reisebegleiter und flog mit Austrian Airlines die zwei Stunden nach Tripolis. Erinnerungen an diese Reise werden mich bis an mein Lebensende begleiten, denn zum ersten Mal hatte ich ausgerechnet in einem Stück Afrika, das direkter Nachbar Europas war, das Gefühl, wirklich auf dem Kontinent angekommen zu sein.
Alles war fremd. Libyen roch nach Zimt, Haselnuss und nicht ausgeleerten Aschenbechern. Ich verstand die Menschen nicht, und sie verstanden mich offenbar auch nicht. Im Schwarz-Weiß-Fernsehen liefen seltsame ägyptische Filme aus den 1950er-Jahren. Nachts konnte ich kaum schlafen, da die schäbigen Hotels mit Ausnahme der letzten beiden Stunden vor der Morgendämmerung von unerträglichem Gebrüll erfüllt waren. Meine libyschen Begleiter (selbstständiges Reisen war unmöglich bzw. verboten) waren ein herzlicher Geschichtsprofessor und unser ungestümer Fahrer Osama, der uns mit seiner Fahrweise in einem dauerhaften Schwebezustand zwischen Leben und Tod hielt. Von den Checkpoints, an denen gelangweilte Soldaten unsere Dokumente wieder und wieder durchforsteten, rasten wir in unserem Mercedes Sprinter zu den römischen Ausgrabungen von Sabrata und Leptis Magna sowie durch die Wüste in die Oasenstadt Ghadames. Vor Sonnenuntergang hielten wir an, und während ich genussvoll rauchte, holte der Professor den kleinen Teppich aus dem Sprinter, rollt ihn im Sand aus und kniete sich mit dem Rücken zur Sonne zum Gebet nieder. In finsterer Nacht tauschten wir uns unterm Sternenzelt über die Theologie in Christentum und Islam aus. Ich wusste, dass ich ab sofort nur so reisen wollte und niemals mehr anders.
Von Ägypten nach Ghana
Die bequeme Position, die man als europäischer Reisender in Afrika fast immer hat, der Notausgang zurück also, war mir immer bewusst. Aber so gut es ging, versuchte ich ab diesem Zeitpunkt den Afrika-Inszenierungen aus dem Weg zu gehen. Das war manchmal möglich, aber nicht immer.
Schon bald nach der Libyen-Reise musste ich beruflich nach Ägypten, in einen der berühmten Magic-Life-Clubs. Wie verlorene Schäfchen irrten die Österreicher auf dem Busparkplatz des Sharm-el-Sheikh-Airports umher, bis sie von den Betreuern mit den Hoteltäfelchen in der Hand eingefangen werden konnten. An der Rezeption drängelten alle nach vorne, um nur ja bei der Ausgabe der Zimmerschlüssel einen der vorderen Plätze zu ergattern. Doch ich hatte Glück. Schon am nächsten Tag freundete ich mich mit einem der ägyptischen Guides an, und wir beschlossen, dass er mir ein Ägypten hinter den touristischen Kulissen zeigen würde: Die Bars der Einheimischen, ihre Moscheen und Kirchen. Wir redeten viel, auch über das ungerechte Mubarak-Regime, über Möglichkeiten des Widerstandes und über die Gefahr, dass eine Revolution von Islamisten gekapert werden könnte und dass ihn dies seine Arbeit kosten könnte, weil die Pauschaltouristen dann wohl ausbleiben würden. So kam es ja dann ab 2011 auch, und nicht nur in Ägypten.
Politische und gesellschaftliche Turbulenzen können bei Reisereportagen über Afrika nie ausgeklammert werden. Zu stark sind die Brüche in diesen Gesellschaften, zu ausgeprägt die Ungleichheit, zu schwer die historischen Bürden. Das Erbe der Apartheid-Politik ist noch heute überall in Südafrika und Namibia allgegenwärtig. Während meiner Aufenthalte 2004, 2008 und 2014 konnte man Soweto (Johannesburg) oder Katatura (Windhoek) ausschließlich in Begleitung örtlicher Guides aufsuchen. Stonetown, der ehemalige Sklavenmarkt Sansibars, war – ebenfalls 2004 – ein geradezu unheimliches Erlebnis, bei dem mir offene Aggression entgegenschlug. Ein menschenleeres Museum des Schreckens waren 2011 die Gemäuer der Festung Elmina, Ghana. Von hier wurde die menschliche Ware über den Atlantik auf die Baumwollfelder der Vereinigten Staaten verschifft.
Die Straßen nach Timbuktu
Es ist ein Irrtum, zu glauben, das sei alles längst Vergangenheit und für die Beschreibung eines afrikanischen Landes unbedeutend. Das Afrika der Gegenwart ist das Ergebnis von mehr als 200 Jahren europäischer Eroberung, Ausbeutung, Kolonisierung, Knechtung, Versklavung, Christianisierung, Islamisierung, von mir auch aus westlicher Erziehung sowie mehr als einem halben Jahrhundert danach, das mit den Versuchen der Afrikaner verging, mit den Folgen all dieser Außeneinflüsse irgendwie fertig zu werden. In unseren Tagen sind es die neuen Mächtigen Chinas, die Afrika als Einflusszone entdeckt haben.
Über Jahrzehnte hinweg wurden angebliche Kenntnisse über den Kontinent also von Vorstellungen geprägt, die sich Europäer von „ihrem“ Afrika gemacht haben. Und es ist nicht einfach, sich von diesen Prägungen freizuspielen. Vor allem dann nicht, wenn das Zeitbudget für eigene Entdeckungen wie in meinem Fall immer beschränkt war. Die überwiegende Mehrheit hat allerdings überhaupt keine Möglichkeit, sich ein eigenes Bild vom Nachbarkontinent zu machen und muss mit den bruchstückhaften Informationen aus Medien und Gesprächen auskommen.
Im Jänner 2011 hatte ich endlich die Gelegenheit, einen kleinen Teil Westafrikas selbst kennen zu lernen. Mit einer Journalistengruppe reiste ich vom westafrikanischen Ghana über Burkina Faso bis an den Niger in Mali und in die von Legenden umwobene Wüstenstadt Timbuktu.
Ich erinnere mich gut, dass ich jede einzelne Minute genoss. Ich musste mir keine Gedanken über die Qualität der Hotels zu machen, denn sie war immer gerade noch erträglich oder miserabel. Auch Sicherheit war kein Thema, denn wir befanden uns aufgrund des abenteuerlichen Fahrstils der Einheimischen ohnehin ununterbrochen in Lebensgefahr, wurden laufend von bewaffneten Soldaten – manchmal sogar in sichtlich betrunkenem Zustand – kontrolliert. Als Mahlzeiten gab es häufig ausschließlich Nudeln, Huhn oder Pizza zweifelhafter Herkunft, dazu entweder kaltes oder lauwarmes Bier. Die Afrikaner selbst waren, geht aus meinen Aufzeichnungen hervor, eigentlich wie die Österreicher, manche super freundlich, andere desinteressiert und abweisend, einige sogar regelrecht ängstlich gegenüber den seltsamen Besucherinnern und Besuchern aus dem fernen, wohl schrecklich kalten Alpenland. Auf diese Art von dem üblichen touristischen Gedanken-Firlefanz befreit, konnte ich all diese wunderbaren Regionen, die ich vorher nur mit dem Finger auf der Landkarte hatte besuchen können, auch einmal in Wirklichkeit in Augenschein nehmen.
Ich erinnere mich an die Fahrten durch das Niemandsland in der Grenzregion zwischen Burkina Faso und Mali, die Sandpiste gesäumt von Affenbrotbäumen. An die Gespräche mit den Soldaten, die uns wohl aus Langweile auf einen Tee einluden und eine halbe Stunde lang in unseren Pässen herumblätterten. An den Maskentanz, den uns die Dogon in der Falaise südliche des Niger zeigten – selbstverständlich gegen ordentliche Bezahlung. An die Nächte in Timbuktu, im Nebenzimmer der katholische Bischof, zu dessen Schutz extra vor dem Hoteleingang malische Soldaten an einer Geschützbatterie Stellung bezogen hatten. Die israelische Touristin im Flugzeug, auf ihrem T-Shirt der Schriftzug „National Pornographic“. Ein skurriles Mittagessen im Diplomatenviertel von Ouagadougou mit Krawatte tragenden staatlichen Aufpassern. Das Fußballspiel mit den Kindern und Jugendlichen neben der Baustelle eines libyschen Luxushotels in Timbuktu, das niemals fertig werden sollte. Und das Geburtstagsfest für einen Freund in einem Holzboot am Niger.
Mein Afrika
Ein Jahr später wurde Timbuktu zuerst von Tuareg-Rebellen und dann von mit ihnen verbündeten islamistischen Milizen besetzt. Eine Reportage im auto touring über diese Reise ist nie erschienen, denn schon in den Monaten nach meiner Rückkehr nach Europa hatte sich die Sicherheitslage in Mali weiter dramatisch verschlechtert. Die Beschreibung der Gräueltaten, die von den Islamisten an der Bevölkerung Timbuktus verübt wurden, würde den im auto touring erträglichen Rahmen sprengen. Wer sich informieren möchte, dem sei der französisch-mauretanische Film „Timbuktu“ von Abderrahmane Sissako von 2014 empfohlen, der in diesem Jahr auch während der Viennale Wien zu sehen war. Im gleichen Jahr wurde die Wüstenstadt, in der auch viele Kulturgüter vernichtet worden waren, von einer internationalen Eingreiftruppe unter der Führung Frankreichs von der Besatzung befreit, aber die Sicherheitslage in Mali blieb wie im gesamten Sahel bis heute schlecht.
Das war also meine Begegnung mit der afrikanischen Realität. Nicht nur durch den Tod meines Vaters, sondern auch aufgrund dieser Reise war 2011 ein Jahr, das mein Leben verändert hat. Als 2015 die große Flüchtlingswelle auch Österreich erreichte, wusste ich zumindest ein bisschen Bescheid, welche Menschen da aus den verschiedensten Gründen zu uns kamen. Man könnte sagen, "mein Afrika" war mir nicht mehr ganz so fremd wie zuvor.